Kommentar
Warum Judas Jesus verraten hat
29.03.2024
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen am 28. März 2018.
Der Jünger Judas Ischariot gilt als einer der größten Intriganten der Geschichte. Seine Tat machte seinen Namen zum Synonym für alle Verräter. Obwohl Jesus vom Verrat wusste, ließ er ihn geschehen. War Judas’ Tat heilsnotwendig und er ein Werkzeug Gottes? Eine Einordnung von Prof. Armin Baum, Leiter der Abteilung Neues Testament der Freien Theologischen Hochschule Gießen (FTH).
Judas hat den vollkommensten Menschen, der jemals gelebt hat, für Geld ans Messer geliefert. Aufgrund seines Verrats wurde die herrlichste Rose, die je in dieser Welt geblüht hat, brutal zertrampelt. Diese Tat hat eine historische und eine theologische Dimension.
In der Öffentlichkeit war Jesus unangreifbar
Nachdem die jüdische Regierung im April des Jahres 30 n. Chr. beschlossen hatte, Jesus zu töten, musste sie ein praktisches Problem lösen. Jesus war bei der großen Mehrheit des Volkes außerordentlich beliebt. Die Hohepriester und Schriftgelehrten konnten ihn nicht festnehmen, während er tagsüber bei seinen öffentlichen Lehrvorträgen im Tempel von seinen zahllosen Anhängern umlagert war. Denn unter diesen Bedingungen hätte die Volksmenge mit gewaltsamem Widerstand reagiert (Markus 14,1–2).
Ähnliche Probleme hatte beispielsweise das NS-Regime, als der römisch-katholische Bischof Clemens August Graf von Galen (1878–1946) im Sommer 1941 öffentlich gegen das Euthanasie-Programm predigte. Die Nationalsozialisten wurden nur durch ihre Angst vor einer unkalkulierbaren Reaktion der Bevölkerung daran gehindert, den Bischof zu verhaften, abzuurteilen und hinzurichten.
Judas verrät den Aufenthaltsort
In einer solchen Situation konnte der Hohe Rat Jesus nur festnehmen, während er nicht von der begeisterten Volksmenge umgeben war. Dazu musste man wissen, wo er sich aufhielt, wenn er den Tempel verlassen hatte und allenfalls seine engsten Schüler bei ihm waren.
Während des jüdischen Passahfests glich die Suche nach der Unterkunft eines bestimmten Festpilgers aber der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Denn während der Wallfahrtsfeste wurde die jüdische Hauptstadt Jerusalem zusätzlich zu ihren – vorsichtig geschätzt – 25.000 Einwohnern von weiteren rund 75.000 Wallfahrern bevölkert. Darum brauchten die Todfeinde Jesu einen Informanten aus seinem engsten Umfeld, der ihnen seinen nächtlichen Aufenthaltsort verriet.
„Judas Ischariot war keineswegs heilsgeschichtlich darauf festgelegt, Jesus zu verraten.“
Dazu war Judas Ischariot bereit. Er diente den Gegnern Jesu als „Wegweiser“ (Apostelgeschichte 1,16) zu dem betreffenden Grundstück auf dem Ölberg außerhalb der Stadt. Judas hat dem Hohen Rat nicht verraten, was Jesus lehrte oder wer er zu sein beanspruchte. Er hat ihnen nicht das Messiasgeheimnis, sondern den nächtlichen Aufenthaltsort Jesu verraten, damit sie ihn ohne Volksaufstand festnehmen konnten. Darum heißt es in den Evangelien durchgehend, dass Judas Jesus seinen Feinden „ausgeliefert“ hat (Markus 3,19 u. ö.). Dadurch hat er ihn verraten.
Den Verrat verzögert
Die Evangelisten sind sich einig, dass Jesus wusste, was Judas plante (Markus 14,18). Darum konnte er rechtzeitig reagieren. Jesus wollte das Passahmahl – wie es damals Vorschrift war – innerhalb der Mauern Jerusalems essen.
Es bestand aber die Gefahr, dass Judas bereits den Ort dieses letzten Abendmahls verriet, das Jesus mit seinen Jüngern unbedingt noch ungestört feiern wollte. Um das zu verhindern, ergriff Jesus bei der Vorbereitung eine besondere Vorsichtsmaßnahme.
Judas musste warten
Als Jesus am Morgen des Gründonnerstags Petrus und Johannes in die Stadt schickte, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen, nannte er ihnen weder den Namen des Hausbesitzers noch seine Adresse. Stattdessen gab er ihnen eine ziemlich ungewöhnliche Wegbeschreibung: „Geht in die Stadt, und es wird euch ein Mensch begegnen, der einen Krug Wasser trägt. Folgt ihm …“ (Markus 14,13–15).
Das muss Jesus mit dem Hausherrn vorher so verabredet haben. Dadurch konnte er verhindern, dass der anwesende Judas zu früh erfuhr, wohin er die Feinde Jesu an diesem Abend hätte führen müssen. Er musste mit seinem Verrat warten, bis Jesus sich nach dem letzten Abendmahl wieder an seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort auf dem Ölberg befand.
Die heiligen Schriften sagten den Verrat nicht vorher
Dass Judas Ischariot seinen Lehrer Jesus von Nazareth verrät, wurde im Alten Testament nicht in dieser Deutlichkeit vorhergesagt. Vielmehr haben die heiligen Schriften Jesus und seinen Anhängern geholfen, den Verrat des Judas theologisch zu bewältigen.
Der Apostel Petrus hat das Verhalten des Judas im Licht der Rachepsalmen gedeutet: Das, was König David über seine damaligen Feinde gesagt hat, gilt auch für den ehemaligen Mitapostel Judas Ischariot. Er wird an seiner Tat zugrunde gehen (Apostelgeschichte 1,20).
Und im Johannesevangelium weist auch Jesus seine Jünger darauf hin, dass es ihm mit Judas so ergeht wie dem biblischen König David, dessen Ratgeber Ahitofel sich gegen ihn verschworen hatte: „Der mit mir das Brot isst, hat seine Ferse gegen mich erhoben“ (Johannes 13,18).
Die heiligen Schriften haben den Verrat des Judas nicht vorhergesagt, sondern halfen und helfen den Gerechten, die Enttäuschung über die Bosheiten ihrer Feinde zu bewältigen. Dass Männern und Frauen Gottes so etwas zustößt, soll sie nicht aus der Bahn werfen.
Judas musste Jesus nicht verraten
In einer durch abgrundtiefe Schlechtigkeit vergifteten Welt war es unvermeidlich, dass der einzige vollkommen Gerechte sich den tödlichen Hass seiner Mitmenschen zuzog. Aber Judas Ischariot war keineswegs heilsgeschichtlich darauf festgelegt, Jesus zu verraten.
Der allmächtige Gott hat Judas nicht zu seinem Verrat gezwungen. Judas hätte die Möglichkeit gehabt, wie seine elf Mitapostel an Jesu Seite zu bleiben. Er hat sich in eigener Verantwortung dagegen entschieden.
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Der Philosoph Robert Spaemann hat einmal ein Gleichnis von einem genialen Maler erzählt. Dieser konnte die hässlichsten Farbkleckse, mit denen jemand sein Gemälde verunstalten wollte, so verarbeiten, als habe er sie von Anfang an mit eingeplant. So musste auch der Verrat des Judas im Endeffekt Gottes sehr gutem Ziel dienen.
Jesus hat sich freiwillig verraten lassen
Wenn Bundeskanzler Willy Brandt (1913–1992) gewusst hätte, dass sein Referent Günter Guillaume (1927–1995) Staatsgeheimnisse an die DDR verriet, hätte er ihn mit Sicherheit enttarnt und festnehmen lassen. Wenn der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto (1923– 1977), gewusst hätte, dass die Tochter seines besten Freundes sich der terroristischen RAF angeschlossen hatte, hätte er mit allen Mitteln verhindert, dass sie seinen Mördern Zugang zu seinem Haus verschafft.
Nawalny und die ungerechten Weingärtner
Als Jesus von Nazareth wusste, dass sein Schüler Judas Ischariot ihn seinen Todfeinden in die Hände spielen wollte, ließ er ihm nach einer kurzen Verzögerung freie Hand. Denn genau das entsprach seiner göttlichen Mission. Jesus hat die Feindesliebe, die er in seiner Bergpredigt gefordert hatte (Matthäus 5,39), selbst praktiziert. Er war entschlossen, sogar den schlimmsten Feinden Gottes die einzigartige Liebe ihres Schöpfers zu demonstrieren.
Statt seinen Verrätern und Mördern ihre Schlechtigkeit zu vergelten, nahm er all ihren Hass auf sich. Statt sie zu vernichten, bat er Gott, ihre unermessliche Schuld zu vergeben (Lukas 23,34). Jesus hat sich von Judas verraten lassen, weil der atemberaubende Glanz des Evangeliums nur so in letzter Klarheit aufstrahlen konnte.
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