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Kommentar

Ist Gott queer? Das Evangelium für unsere verquere Welt

21.06.2023

Prof. Armin Baum erklärt das Wort „queer“. Symbolfoto: unsplash.com
Prof. Armin Baum erklärt das Wort „queer“. Symbolfoto: unsplash.com

Zu der Debatte um die Abschlusspredigt auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag eine Einordnung von Prof. Armin Baum.

Was heißt „queer“?

Die heutige Wortbedeutung ist noch sehr jung. Das aus dem Englischen übernommene Wort „queer“ (dt. „quer“) bedeutete laut Duden lange ganz allgemein „sonderbar, merkwürdig, andersartig“. Erst seit den 80er Jahren wurde es zu einer Sammelbezeichnung für Menschen mit einer „andersartigen“ Sexualität.

Im Blick auf die sexuelle Orientierung heißt queer „homosexuell“ (also „schwul“ bzw. „lesbisch“) oder „bisexuell“ und bezeichnet Menschen, die sich sexuell ganz oder teilweise vom eigenen Geschlecht angezogen fühlen.

Im Blick auf das biologische Geschlecht heißt queer „intersexuell“ und bezeichnet Menschen mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen (die man früher als „Zwitter“ oder „Hermaphroditen“ bezeichnete).

Im Blick auf Personen, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren können, heißt queer „transgender“ und kann auch Männer und Frauen bezeichnen, die an sich geschlechtsangleichende Maßnahmen durchführen lassen.

Insofern bezeichnet „queer“ alle Menschen, die mit der Abkürzung LSBTI = Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle zusammengefasst werden (engl. LGBTI).

Queere Menschen in biblischer Perspektive

Der für die christliche Einordnung queerer Menschen wichtigste Text findet sich auf den ersten Seiten der Bibel, in der ersten Schöpfungserzählung der Genesis.

Am letzten Schöpfungstag erschafft Gott die Menschen. Über sie werden zwei Grundaussagen getroffen: Sie sind Gott ähnlich. Und sie haben zwei biologische Geschlechter, die sie in die Lage versetzen, sich fortzupflanzen (1. Mose 1,27-28):

„Und Gott erschuf den Menschen als sein Bild,
als Bild Gottes erschuf er ihn.
Männlich und weiblich erschuf er sie.
Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen:
Seid fruchtbar und vermehrt euch …“

In dem idealen Originalzustand, in dem die Menschen aus der Hand ihres Schöpfers hervorgehen, sind sie rein weiblich oder rein männlich und nicht intersexuell.

Als noch alles „sehr gut“ ist (1. Mose 1,31), hat kein Mensch Mühe, sich mit seinem eigenen Geschlecht zu identifizieren, und braucht niemand geschlechtsangleichende Maßnahmen.

Am Anfang fühlen sich Männer und Frauen nur vom anderen Geschlecht angezogen. Eine Spannung zwischen dem biologischen Geschlecht und der sexuellen Orientierung ist noch ausgeschlossen. Darum sind alle Menschen problemlos in der Lage, Kinder zu zeugen, ohne Leihmütter und andere Umwege.

LGBTI kommen in der biblischen Schöpfungserzählung noch nicht vor. Und wir dürfen sie auch nicht nachträglich, aus unserer heuten Perspektive in diesen jüdisch-christlichen Basistext hineinlesen.

Die verrutschten Schachfiguren

Raum für intersexuelle Menschen mit männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen, für Transgender, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren können, und für Homosexuelle, deren sexuelle Orientierung nicht zu ihrem biologischen Geschlecht passt, entsteht in der biblischen Urgeschichte erst in Kapitel 3.

Durch den Sündenfall wird nicht nur die Beziehung zwischen den Menschen und ihrem Schöpfer, sondern auch die Beziehung der Menschen untereinander beschädigt. Das verdeutlicht diese tiefe biblische Erzählung beispielhaft an einem Phänomen: Nachdem Mann und Frau von der verbotenen Frucht gegessen haben, fangen sie an, sich voreinander zu schämen (1. Mose 3,7).

Die bisher „sehr gute“ Schöpfung Gottes gleicht von jetzt an einem Schachbrett, das einen Stoß bekommen hat, so dass einige Figuren verrutscht sind. Statt eines weißfeldrigen und eines schwarzfeldrigen Läufers gibt es jetzt nur noch zwei weißfeldrige oder zwei schwarzfeldrige Läufer. Von diesem Stoß sind wir alle betroffen.

Wir sind alle verquer

Seit diesem tiefen Fall befindet sich kein Mensch mehr in dem perfekten Originalzustand, in dem der Schöpfer uns gewollt hat. In diesem Sinne sind wir alle queer im Sinne von „andersartig“ oder „verquer“. Wir leiden alle unter verschiedensten Störungen, die uns das Leben schwermachen und uns ständig daran erinnern, dass wir nicht ganz in Ordnung sind.

Wir leiden auch alle unter Störungen in unserer Sexualität und damit in einem Lebensbereich, der bis tief in unsere Seele hineinreicht. Und einige Menschen wie die Transgender und die Intersexuellen leiden an dieser Stelle besonders. Auch an ihrem Schicksal, das sie sich ja nicht selbst ausgesucht haben, zeigt sich die Gebrochenheit unserer Welt.

Gott heilt die Queeren und die „Normalen“

Das Evangelium, die Gute Botschaft für unsere verquere Welt lautet nicht, dass Gott auch queer ist. Denn Gott hat zwar sexuelle Wesen geschaffen, aber er ist selbst kein sexuelles Wesen. Im Unterschied zu seinen Geschöpfen hat Gott kein biologisches Geschlecht, keine sexuelle Orientierung und keine sexuelle Identität. Außerdem leidet der heilige Gott nicht an den Störungen, die seine zerbrechlichen Geschöpfe belasten: Gott ist weder schwul noch lesbisch noch bisexuell noch transgender noch intersexuell.

Darum lautet das Evangelium nicht, dass Gott auch queer ist. Das wäre aus christlicher Sicht eine Gotteslästerung und außerdem keine gute Botschaft. Die wirklich gute Botschaft lautet, dass der allmächtige Schöpfer zugleich ein unendlich gnädiger Arzt ist, der alle seine Geschöpfe liebt und uns alle von unseren Defiziten, Verletzungen und Schatten befreit. Diesseits des himmlischen Festsaals nur teilweise und vorläufig. Aber in seinem jenseitigen Königreich einmal vollständig und endgültig. Dort werden alle, die auf ihn vertrauen, ganz heil und wirklich normal sein.

Armin Baum ist Professor für Neues Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen. Foto: FTH Gießen

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