Frei-/Kirchen
Debatte um Rolle der Kirche in der Corona-Krise weitet sich aus
20.05.2020
Berlin/Magdeburg/Köln (idea) – Die Debatte um kritische Äußerungen der früheren thüringischen Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) zur Rolle der Kirchen in der Corona-Krise weitet sich aus. In einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ (Ausgabe 19. Mai) hatte die evangelische Theologin gesagt, die Kirche habe in der Corona-Krise „Hunderttausende Menschen alleingelassen – Kranke, Einsame, Alte, Sterbende“. Rund 8.000 Menschen seien an Covid-19 gestorben, aber seit März auch 150.000 Menschen aus anderen Gründen. „Wo war da das Wort der Kirchen?“, fragt Lieberknecht. Sie bezeichnet es als unmenschlich, dass Sterbende ohne Beistand in den Tod gingen: „Da wurde kein letzter Psalm gebetet, es gab keinen Trost, keine Aussegnung am Sterbebett.“ Auch die Schließung der Kirchen wäre nach ihren Worten nicht zwingend erforderlich gewesen.
Reiche: Hygienical correctness ist schlimmer als political correctness
Nach Ansicht des Pfarrers und früheren SPD-Politikers Steffen Reiche (Berlin) hat Lieberknecht „mit vielem recht“. Er habe es am schlimmsten gefunden, dass Kirchenkreise und manchmal auch Kirchenmitglieder sich zu den notwendigen Verordnungen noch weitere ausgedacht hätten. „Diese hygienical correctness war noch schlimmer als die political correctness“, sagte Reiche der Evangelischen Nachrichtenagentur idea. „Auch in Corona-Zeiten darf man Verstand und Anstand haben und selber entscheiden, wo man um der Menschen wegen die Verordnungen menschlich interpretiert.“ Er betonte zugleich: „So viel Seelsorge wie in der Corona-Krise musste ich selten machen.“ Natürlich habe er Beerdigungen durchgeführt: „Auch in der Kapelle. Und auch Aussegnungen – dann eben in dieser besonderen Kleidung.“ Reiche gehörte zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Partei der DDR noch vor dem Fall der Mauer. Von 1994 bis 2004 war er Minister im Bundesland Brandenburg.
Landesbischof Kramer weist Kritik zurück: Regeln beim Gesundheitsschutz einhalten
Dagegen wies der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer (Magdeburg), die Kritik zurück. Der Gesundheitsschutz verlange, „dass wir die Regeln einhalten“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es habe unentwegt Gespräche mit staatlichen Stellen und kurze Drähte zu den Ministerien gegeben. Kramer: „Dort wurde verstanden, wie wichtig Seelsorge gerade jetzt ist. Beispielsweise gab es daraufhin Erleichterungen bei Trauerfeiern.“ Der Landesbischof nannte es großartig, „wie kreativ Kirchgemeinden und die ehren- und hauptamtlich Mitarbeitenden Wege gefunden haben, in dieser Krise bei den Menschen zu sein“. Lieberknecht widersprochen hatte auch der EKD-Ratsvorsitzende, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm (München). Sie tue damit allen Seelsorgern Unrecht, die sich in den vergangenen Monaten für andere Menschen aufgerieben hätten. „Die Kirchen haben unter schwierigsten Bedingungen vielerlei politischer Verbote das ihnen Mögliche getan, um ihren Dienst zu tun und Gottes Wort auszurichten“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Die (katholische) Deutsche Bischofskonferenz nannte die Kritik nicht nachvollziehbar: „Unsere Krankenhausseelsorger haben Unglaubliches geleistet, unsere Palliativbegleiter ebenfalls“, sagte der Sprecher der Bischofskonferenz, Matthias Kopp (Bonn).
Hahne: Kirche hat ihre Glaubwürdigkeit verspielt
Unterstützung erhält Lieberknecht dagegen vom früheren EKD-Ratsmitglied und Bestsellerautor Peter Hahne (Berlin). Er hatte bereits vor Wochen gefordert, dass Kirchen sich den staatlichen Anordnungen widersetzen sollten. Hahne sagte gegenüber idea, die Kirche hätte darum kämpfen müssen, ihre Pfarrer nach Gesundheitstests zu den kranken Menschen schicken zu dürfen – auch in überforderte Familien, in denen Kinder misshandelt und missbraucht würden. „Wer Mittelmeer-Schiffe zur Unterstützung von Schlepperbanden anheuert und die ‚Heilige Greta‘ anhimmelt, jedoch die Schwächsten der Schwachen der Hölle von Einsamkeit und Gewalt überlässt, hat jede Glaubwürdigkeit verspielt.“ Der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber (Berlin) äußerte Verständnis für Lieberknecht .„Sie hat in sicherlich überspitzter Form Sorgen und Enttäuschungen zum Ausdruck gebracht, mit denen sie nicht allein steht“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Die Kirche habe auch nach seinem Gefühl die Aufgabe der Seelsorge und Fürsorge für Kranke, Alte und Sterbende „nicht mit dem gebotenen Nachdruck herausgestellt“. Allerdings hätten die Seelsorger in der Krise trotz aller Beschränkungen sehr viel geleistet.
In Zuschriften heißt es: Frau Lieberknecht spricht „uns aus dem Herzen“
Die ehemalige Pastorin Lieberknecht verteidigt ihre Aussagen gegen die Kritik. Gegenüber domradio.de (Köln) berichtete sie, dass sie eine Reihe von Zuschriften und Rückmeldungen bekommen habe, in denen es heiße: „Frau Lieberknecht hat uns aus dem Herzen gesprochen.“ Zum Hinweis der Kirchen, dass Seelsorger und Gemeindemitglieder an der Basis sehr aktiv seien, erklärte Lieberknecht: „Das stelle ich gar nicht in Abrede. Auch das würdige ich ja. Aber genau die hätten sich mehr Beistand beziehungsweise ein klares Wort der Kirchen gewünscht.“ Lieberknecht äußert die Befürchtung, dass Kirche immer mehr dazu tendiere, sich in die Reihe der zivilgesellschaftlichen Organisationen einzureihen, die man in den Wohlfahrtsverbänden an anderer Stelle habe: „Die Kirche ist aber doch etwas anderes.“
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