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Kommentar

Verrat auf 4.500 Seiten

05.11.2023

Im Zuchthaus Brandenburg-Görden – von dort aus war Eckart Giebeler tätig – saßen zur DDR-Zeit bis zu 3.500 Häftlinge ein. Die politischen Gefangenen – darunter Christen – wurden oft härter bestraft als die kriminellen. Über 500 Insassen nahmen sich das Leben. Foto: Gedenkstätten Brandenburg an der Havel
Im Zuchthaus Brandenburg-Görden – von dort aus war Eckart Giebeler tätig – saßen zur DDR-Zeit bis zu 3.500 Häftlinge ein. Die politischen Gefangenen – darunter Christen – wurden oft härter bestraft als die kriminellen. Über 500 Insassen nahmen sich das Leben. Foto: Gedenkstätten Brandenburg an der Havel

34 Jahre nach dem Fall der Mauer will am 5. November die evangelische Kirche Versagen im Umgang mit dem einzigen hauptamtlichen DDR-Gefängnisseelsorger bekennen. Ein Beitrag von Helmut Matthies (Brandenburg an der Havel)

Mittwoch, 4. Oktober 2023: In der Gedenkstätte Zuchthaus Brandenburg-Görden referiert Michael Teupel unter dem Thema „Verraten und verkauft“, wie er dort als 18-Jähriger inhaftiert war, weil er die DDR verlassen wollte. Andere bezahlten, wie er berichtete, diesen Wunsch mit ihrem Leben. Von zwei ihm bekannten Familien wurden sogar zwei Kinder bei ihrer Flucht in den Westen ohne Warnschuss an der deutsch-deutschen Grenze abgeknallt. Den 15-Jährigen streckte man mit 51 Schüssen nieder. Dem Vortrag hörten noch andere ehemalige politische Häftlinge zu – einst verurteilt, weil sie mit der Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED, heute: Die Linke) nicht einverstanden waren. In der Diskussion wurde gefragt, ob es auch eine kirchliche Betreuung gab. Es gab sie manchmal und zeitweise, aber oft mit traumatischen Folgen.

Bis zu 300.000 Gewissensgefangene

Zwischen Rügen und dem Erzgebirge waren bis zum Fall der Mauer am 9. November 1989 insgesamt 250.000 bis 300.000 Oppositionelle in Haft. Der erste Gefängnisgeistliche in der DDR ist Hans-Joachim Mund gewesen. Da er Mitglied der SED war, bot ihm 1950 die Volkspolizei die Stelle an. Mund lehnte jedoch eine Mitarbeit für das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) ab und versuchte den Häftlingen Mut zu machen, die schwere Zeit durchzuhalten. Als er nach neun Jahren Dienst anonym aufgefordert wurde, die DDR zu verlassen, da seine Verhaftung drohe, floh er 1959 in den Westen. Zuvor wurden 1953 auch Pfarrer Heinz Bluhm und Eckart Giebeler zusätzlich vom Staat als Gefängnisseelsorger eingestellt. Als der regimetreue Bluhm 1966 starb, blieb für alle 81 Haftanstalten als einziger Hauptamtlicher nur Giebeler übrig – bis zum Ende der DDR im Jahr 1990.

Gefängnisseelsorger Eckart Giebeler. Foto: Beckaman Kusch

Dann platzte die Bombe!

Zwei Jahre nach Ende der DDR veröffentlichte Giebeler 1992 im evangelikalen Brockhaus-Verlag seine Autobiografie „Hinter verschlossenen Türen. Vierzig Jahre als Gefängnisseelsorger in der DDR“. Er stellt sich als treusorgender „offiziell bestallter evangelischer Pfarrer“ dar, der nie wissentlich für die Stasi gearbeitet habe. Der Verlag beschreibt ihn im Vorwort als mutigen Geistlichen, der trotz größter persönlicher Nachteile seinen Dienst vorbildlich ausgeübt habe.

Nur wenige Monate nach Erscheinen des Buches platzt die Bombe: Am 9. Oktober 1992 wird die ARD-Dokumentation ausgestrahlt: „Zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit. Wie die ostdeutschen Kirchen die politischen Häftlinge betreut haben“. Giebeler wird vier Tage vor seinem 67. Geburtstag enttarnt als Stasi-Mitarbeiter „IM Roland“. 15 Bände mit jeweils 300 Seiten Berichte hat er für den DDR-Geheimdienst verfasst, der im Auftrag der SED wirkte. 14 Bände wurden kurz nach dem Fall der Mauer von der Stasi noch schnell geschreddert. Aber aufgrund von Kopien konnte nachgewiesen werden, dass er sich von 1959 bis 1989 mindestens 276-mal mit seinen Vorgesetzten bei der Stasi zur Berichterstattung traf. Das brandenburgische Justizministerium beendete nach der Fernsehsendung sofort Giebelers Tätigkeit: Seine Arbeit hatte am 1. Oktober 1949 als Vikar und angestellt von der Volkspolizei in der berüchtigten Strafvollzugsanstalt in Brandenburg an der Havel begonnen – und 1992 endete sie genau dort.

Der Pfarrer selbst bot sich als Spitzel an

Die pommersche Theologin und Historikerin Marianne Subklew-Jeutner wies in ihrem Buch „Schattenspiel. Pfarrer Eckart Giebeler zwischen Kirche, Staat und Stasi“ (Metropol Verlag, Berlin 2019) auf 456 Seiten nach, wie Schuld, Verrat und kirchliches Versagen zusammengehörten. Besonders Bürger, die im freien Westen gelebt haben, müssen vorsichtig darin sein, das Verhalten von Christen in einer Diktatur zu bewerten. Doch Giebeler ist nicht wie manch andere von der Stasi erpresst worden. Er war vielmehr überzeugt vom Sozialismus und bot sich der Stasi selbst als Spitzel an.

Sein Verrat hatte schlimme Folgen

Wie er schreibt, vertrauten sich ihm Tausende Häftlinge an. Zahllose Male verletzte er dann das Beichtgeheimnis, indem er die ohnehin Geplagten an die Täter verriet. 1978 beispielsweise planten christliche Häftlinge in Cottbus einen Streik. Wer verriet es der Volkspolizei? Pfarrer Giebeler! 1982 geriet ein Brief an den Magdeburger Bischof Werner Krusche, den verzweifelte Eltern ihm geschrieben hatten, weil ihr Sohn in der Haft schwer krank wurde, in seine Hände. Als der Sohn erneut versuchte, seine Eltern zu unterrichten, wurde er in Arrest gesperrt, „wo er an Asthma-Anfällen fast erstickt wäre“, so die Redakteure der ARD-Dokumentation.

Pfarrer Matthias Storck, der als Theologiestudent aufgrund seiner regimekritischen Haltung von einem Freund und (!) Pfarrer („IM Klaus“) verraten wurde, schreibt in seinem überaus lesenswerten Buch „Karierte Wolken“ (Brunnen Verlag), Giebeler habe nicht nur den Namen Jesu verraten, sondern auch „wehrlose Menschenkinder in trostlose Tiefen gestoßen“. Giebeler spionierte auch bei Pfarrkonventen und Synoden, beurteilte Ehen, nannte manche Kollegen in seinen Berichten „reaktionäre Schweine“. Auch versuchte er kirchliche Entscheidungen personell und inhaltlich zu beeinflussen. In Stasi-Protokollen wird Giebeler gelobt als „aktivster“ und „bester“ Mitarbeiter. Für seinen vielfachen Verrat bekam er so gut wie alle Orden der DDR (berichtet in Medien der DDR) und zusätzlich zu seinem Gehalt noch Zahlungen von der Stasi: allein zwischen 1983 und 1989 mindestens in Höhe von 20.500 DDR-Mark.

So reagierte die Kirche

Bereits 1979 wandte sich ein vom Westen freigekaufter politischer Häftling an die BILD-Zeitung. Sie berichtete von seinem Vorwurf, Giebeler arbeitete für den Geheimdienst, sei als „Genosse Hauptmann“ angeredet worden. Der damalige Ost-Berliner Bischof Albrecht Schönherr wies dies als „Verleumdung“ zurück. 1981 wurde Giebeler bei der Zentralen Erfassungsstelle für DDR-Verbrechen in Salzgitter angezeigt. Dessen ungeachtet wurde er von der Kirche 1983 nachträglich zum Pfarrer ordiniert. Trotz der Enthüllungen und Belege in der ARD-Sendung vom 9. Oktober 1992 betonte der Nachfolger Schönherrs, Gottfried Forck (inzwischen Altbischof), Giebeler habe nie „irgendeinen Gefangenen“ verraten. Der evangelische Propst (Regionalbischof) Hans-Otto Furian verteidigte ihn ebenso wie der Pfarrkonvent des Kirchenkreises Brandenburg, dem Giebeler angehörte. Die Geistlichen kritisierten die Fernsehsendung „auf das Schärfste“. Der Verrat Giebelers hatte schließlich keine kirchenrechtlichen Konsequenzen. Er predigte weiter und zeigte bis zu seinem Tod 2006 keine Reue.

Spätes Schuldbekenntnis

Erst sieben Jahre danach, 2013, bestätigte die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), dass Pfarrer Eckart Giebeler für die Stasi gearbeitet habe. Es dauerte weitere neun Jahre, bis sich der Berliner Bischof Christian Stäblein erfreulicherweise der Sache annahm. Vor der Landessynode erklärte er 2022: „Giebeler hat das Vertrauen, das ihm die Gefangenen entgegengebracht haben, unzählige Male missbraucht.“ Stäblein und andere Kirchenleitungsmitglieder trafen sich auch mit ehemaligen politischen Häftlingen, die den Geistlichen erlebt hatten. Die Leidensgenossen baten um einen Gottesdienst und ein Wort der Kirche, in dem sie auch ihr Versagen bekennen müsse. Dies soll am 5. November um 18 Uhr in der Marienkirche am Berliner Alexanderplatz geschehen. Halleluja!

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