Interview
Wenn Angst krank macht
07.10.2023
In Deutschland leiden mehr Menschen unter Angststörungen als unter Depressionen. Etwa zehn Millionen Bundesbürger haben mindestens ein Mal in ihrem Leben eine krankhafte Angstphase erlebt. IDEA-Redakteurin Julia Bernhard hat mit dem Psychiater Prof. Markus Steffens über die Auslöser und Behandlung von Angststörungen gesprochen.
Prof. Markus Steffens
ist Chefarzt der Abteilung Allgemeine Psychiatrie, Psychotherapie, Sozialpsychiatrie und Suchtmedizin der DGD-Klinik Hohe Mark in Oberursel (Taunus). DGD steht für „Deutscher Gemeinschafts-Diakonieverband“. Steffens (54) ist evangelischer Christ, verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.
IDEA: Herr Professor Steffens, jeder hat mal Angst, aber nicht jeder leidet unter einer Form der krankhaften Angst. Was ist der Unterschied?
Steffens: Angst gehört zu unserem Leben. Wir brauchen sie, um zu überleben. Wenn wir z. B. auf die Straße gehen und aus dem Augenwinkel sehen, dass da noch ein Auto kommt, reagieren wir in einem Bruchteil von Sekunden, bevor wir überhaupt richtig darüber nachdenken können, und springen zurück. Es wäre schlimm, wenn wir dieses System der Angst nicht hätten. Aber es gibt Formen der Angststörungen, bei denen sich dieser Mechanismus verselbstständigt und gravierend stark wird.
IDEA: Welche Formen der Angststörung gibt es?
Steffens: Es gibt phobische Ängste wie die Höhenangst oder die Angst vor Spinnen. Manche Betroffene haben Angst, eine schwere Erkrankung zu bekommen. Häufig kommen auch Sozialängste vor, wie z. B. sich in der Öffentlichkeit zu blamieren oder große Menschenmassen nicht aushalten zu können. Bei all diesen Formen leiden die Betroffenen sehr stark. Man geht davon aus, dass etwa 15–17 % der Bevölkerung in Industriestaaten eine Angststörung haben.
IDEA: Was passiert im Körper bei einer Angstattacke?
Steffens: In solchen Momenten arbeiten Hirnregionen und -systeme, die sich dann ein Stück der Kontrolle unserer Großhirnrinde entziehen. Sie ist beispielsweise für das bewusste Denken zuständig. Der Körper reagiert mit einer Anspannung der Muskeln. Es kann zum Zittern der Hände oder der Stimme kommen.
Aber es gibt auch Auswirkungen auf andere Organsysteme: Es kommt häufig zu einem beschleunigten Puls, die Atmung wird schnell und flach. Schwindel und Übelkeit können auftreten. All das ist nicht gefährlich. Aber häufig rasen dabei die Gedanken. Oft entwickelt der Betroffene dann auch noch eine Angst vor den Symptomen – bis hin zur Todesangst.
„Es wäre schlimm, wenn wir dieses System der Angst nicht hätten.“
IDEA: Die Einschränkungen durch solche Attacken müssen ja enorm sein.
Steffens: Natürlich. Betroffene wollen zunächst vor allem nicht, dass es wieder auftritt, und versuchen deshalb, Situationen zu meiden, in denen sie die Angstattacken schon erlebt haben. Dadurch können sie viele Orte nicht mehr besuchen.
Manche können sogar nicht mehr an die Arbeitsstelle gelangen oder überhaupt die Wohnung verlassen. Außerdem bringt das ohnehin nur scheinbar Erleichterung. Denn die Schwelle der Angst sinkt herab, und es steigt die Gefahr, dass es diese Person auch in anderen Situationen erwischt.
IDEA: Schleicht Angst sich langsam an, oder erwischt sie die Betroffenen immer kalt?
Steffens: Panikattacken kommen fast immer plötzlich, innerhalb von Sekunden. Im Durchschnitt dauern sie etwa 25 Minuten. Länger nicht, denn das geht biologisch gar nicht, da die beteiligten Botenstoffe und Hormone sich dann wieder abbauen. Wenn ich aber versuche, sie wegzudrücken, geht die Attacke länger. Das ist also nicht ratsam.
IDEA: Ab welchem Alter kann eine Angststörung auftreten?
Steffens: Es gibt sogar schon Kinder, die betroffen sind. Auch jeder, der bislang noch nie eine Panikattacke erlitten hat, kann eine bekommen. Niemand ist komplett gefeit davor.
IDEA: Auch nicht Menschen, die sehr mutig und selbstsicher sind?
Steffens: Im Gegenteil: Besonders leistungsorientierte, engagierte und aktive Personen sind gefährdet. Es ist einer der Irrtümer über die Angst, dass sie nur labile oder persönlichkeitsschwache Menschen trifft.
IDEA: Aber der christliche Glaube sollte doch ein wenig schützen.
Steffens: Er kann das Risiko verringern, in eine Angststörung zu kommen, oder einen positiven Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung nehmen. Allerdings dürfen Resilienz- oder Schutzfaktoren nicht missverstanden werden: Jeder Mensch kann von einer Angsterkrankung betroffen werden, auch jeder Christ.
IDEA: Christen nehmen schnell an, ihr Gottvertrauen sei zu klein, wenn sie Angst haben.
Steffens: Auch Christen sind vor Fehlannahmen nicht gefeit. Jesus sagt: „In der Welt habt ihr Angst.“ Basta, so ist es. Es gibt also keinen Grund, nicht darüber zu reden, dass man eine Angsterkrankung hat. Und Jesus fährt fort: „Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Johannes 16,33). Er sagt damit auch: Ich, ihr noch nicht.
IDEA: Welche Ursachen haben Angststörungen?
Steffens: Es gibt nicht immer einen ganz bestimmten Grund für eine Panikattacke. Häufig liegen vor der ersten Attacke aber wichtige negative Lebensereignisse, wie eine Trennung, der Verlust eines nahestehenden Menschen, eine plötzliche Erkrankung.
Aber auch positive Dinge wie eine Hochzeit können ein Auslöser sein. Das sind Stressoren, die die Grundanspannung steigen lassen. Dann reicht eine kleine Sache, die man vielleicht schon hundertmal erlebt hat, und die Angstschwelle wird durchbrochen.
Manchmal gibt es im näheren Umfeld der Betroffenen weitere Menschen, die schon mal mit Angst- und Panikattacken zu tun hatten. Das Verhalten wird als ein Mechanismus übernommen. Auch länger zurückliegende traumatische Erlebnisse können Ursache sein. Das erlebe ich bei der Behandlung von Betroffenen immer wieder.
IDEA: Umfragen zeigen einen massiven Anstieg von Angsterkrankungen in jüngster Zeit. Können aktuelle Situa tionen wie Inflation, Krieg, Krankheiten bei den Betroffenen wie Brandbeschleuniger wirken?
Steffens: Wir haben inzwischen erste Zahlen aus der Corona-Pandemie, die sehr gut belegen, dass zumindest deutlich mehr jüngere Menschen von Angststörungen betroffen sind. In dieser Zeit gab es klare Stressoren: wenig soziale Kontakte, zu wenig Unterstützung.
Aus früheren Forschungen bei Krisenereignissen wie Kriegen wissen wir, dass die Angststörungen meist nicht in der unmittelbaren Situation zunehmen, sondern im Nachgang. Dieser Anstieg ist also zu erwarten gewesen.
IDEA: Frauen sind häufiger von Angststörungen betroffen als Männer. Laut einer Umfrage der Kaufmännischen Krankenkasse für das Jahr 2022 holen die Männer aber stark auf. Wie erklären Sie sich das?
Steffens: Das hängt vor allem mit dem Phänomen der öffentlichen, aber insbesondere der Selbststigmatisierung zusammen, sich also selbst zu verurteilen. Frauen suchen sich schneller Hilfe. Männer leiden häufig schon sehr viel länger, bevor sie zum ersten Mal zum Arzt wegen emotionaler und psychischer Beschwerden gehen.
Sie denken zunächst, sie hätten sich nicht genügend zusammengerissen. Dankenswerterweise hat sich das ein Stück verbessert. Auch in der Gesellschaft wird offener über Angsterkrankungen gesprochen; es wird hoffähiger. Der Geschlechterunterschied wird sich daher weiterhin angleichen.
IDEA: Wie kann ein Mensch bei einer Panikattacke begleitet werden?
Steffens: Beim ersten Auftreten ist eine organische Diagnostik zu empfehlen. Wenn es schon häufig passiert ist und jemand weiß, dass nichts Organisches vorliegt, sollten Menschen, die helfen wollen, auf Wünsche, wie einen Krankenwagen zu rufen, nicht eingehen.
Die Panikattacke selbst ist nicht lebensbedrohlich. Aber es macht natürlich keinen Sinn, dem Betroffenen zu sagen, er solle sich am Riemen reißen, auch wenn man es selbst nicht nachvollziehen kann. Das Hilfreichste ist, mit in der Situation zu bleiben und zu versichern, dass er oder sie nicht sterben wird. Dass es Zeit braucht, aber bald vorbei ist.
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AngeboteIDEA: Wie wird krankhafte Angst therapiert?
Steffens: Als Erstes gilt herauszufinden, woher die Angst kommt, wann sie auftritt, wie sie sich ausbreitet und wie man bislang versucht, sie zu vermeiden. Dann arbeitet man mit dem Patienten heraus, warum die Angst von selbst wieder zurückgeht, wenn er in einer Panikattacke ist.
Ein wichtiger Punkt der psychotherapeutischen Behandlung ist die Exposition: Der Betroffene muss in der Angstsituation so lange drinbleiben, bis die Angstkurve deutlich abfällt. Das erfordert eine gute Vorbereitung und Begleitung. Aber nur so machen sie die Erfahrung, dass es eben von selbst wieder geht. Wenn man das mehrfach durchführt, wird die Angstkurve immer kürzer und flacher.
IDEA: Kann ein Erkrankter seine ungesunde Angst komplett loswerden?
Steffens: Absolut. Deshalb sollte man frühzeitig Hilfe in Anspruch nehmen. Angsterkrankungen sind sehr gut behandelbar.
IDEA: Vielen Dank für das Gespräch!
Formen von Angststörungen
Soziale Phobie ist die Angst vor gesellschaftlichen Situationen. Die Betroffenen meinen, dass ihr Auftreten in der Öffentlichkeit von anderen als komisch, peinlich oder unangemessen beurteilt werden könnte.
Agoraphobie meint die Angst vor der Außenwelt. Betroffene fürchten nicht die Menschen dort, sondern Orte und Situationen, etwa plötzlich in Ohnmacht zu fallen und keine Hilfe zu bekommen.
Generalisierte Angst haben Menschen, die sich um alles und über alles ausgeprägte Sorgen machen. Sie befürchten ständig etwas Schlimmes, obwohl kein Grund vorliegt. Sie sehen Gefahren, wo keine sind. Die Betroffenen leiden unter einer Dauerangst.
Spezifische Phobien sind ausgeprägte Ängste vor bestimmten Objekten oder Situationen. Dazu zählen Spinnenphobie, Höhenangst oder Platzangst. Es gibt fast nichts, was nicht Auslöser einer spezifischen Phobie sein kann.
Panikstörung bezeichnet eine plötzliche Angst aus dem Nichts heraus. Sie ist eine intensive, anfallsartige Angst. Panikattacken können auch das Symptom einer anderen Phobie sein.
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