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Interview

„Was diese Frauen ertragen müssen, ist grausam“

25.05.2022

Gerhard Schönborn ist Streetworker in Berlin. Foto: Neustart e.V.
Gerhard Schönborn ist Streetworker in Berlin. Foto: Neustart e.V.

Deutschland hat eines der liberalsten Prostitutionsgesetze und gilt als „Bordell Europas“. Schätzungsweise 8.000 Frauen schaffen in Berlin an – viele von ihnen sind Opfer von Zwangsprostitution. Der Streetworker Gerhard Schönborn setzt sich seit 18 Jahren für diese Frauen ein. Mit ihm sprach IDEA-Redakteurin Erika Weiss.

IDEA: Herr Schönborn, in Deutschland gibt es laut dem Statistischen Bundesamt 24.940 Prostituierte, viele machen diese Tätigkeit nicht freiwillig. Inwiefern ist Zwangsprostitution ein unterschätztes Problem?

Schönborn: Wenn man sich die Zwangsverhältnisse vergegenwärtigt, müsste ein Aufschrei durch Politik und Gesellschaft gehen. Vor kurzem ist ein Buch einer ehemaligen Betroffenen von Menschenhandel erschienen. Sie schreibt, dass sie in elf Jahren circa 25.000 Kunden hatte. Wenn wir das auf all die Frauen hochrechnen, die zur Prostitution gezwungen werden, haben wir Hunderttausende von Vergewaltigungen tagtäglich. Was diese Frauen ertragen müssen, ist grausam.

IDEA:Sie sind gelernter Zollbeamter. Wie kommt es, dass Sie ein Herz für dieses Thema haben?

Schönborn: Meine Gemeinde liegt direkt am Straßenstrich der Kurfürstenstraße in Berlin. Wenn ich abends aus der Gemeinde rauskam, sah ich die Frauen zwischen den Autos stehen. Meine Frau und ich hatten den Wunsch zu helfen. Wir haben uns erst mal in einer Teestubenarbeit für Drogenabhängige engagiert. Dort schüttete mir an meinem ersten Abend eine drogenabhängige Prostituierte ihr Herz aus. Das hat mich sehr berührt.

IDEA: Sie haben vor 15 Jahren die christliche Lebenshilfe Neustart e.V. gegründet und ein Jahr später ein Beratungscafé für Prostituierte.

Schönborn: Unser Café ist direkt am Straßenstrich. Es gibt Kaffee, Brötchen und manchmal Suppe. Wir haben auch eine Kleiderkammer. Die Frauen können sich bei uns zurückziehen, ausruhen oder ihre Sorgen mitteilen. Und wenn sie fachlichen Rat benötigen, können sie unsere Sozialarbeiterinnen ansprechen. Jeden Tag kommen zwischen 15 und 25 Frauen.

IDEA: Wie nehmen Sie die Stimmung unter den Frauen wahr?

Schönborn: Viele sind sehr verzweifelt. Sie haben kaum Hoffnung, dass sich etwas in ihrem Leben verändert. Sie berichten von Gewalt und Erniedrigung durch Freier und Zuhälter. Tag und Nacht dreht sich bei ihnen fast alles nur ums Geldverdienen – für Drogen, fürs Überleben oder den Zuhälter.

IDEA:Es wird befürchtet, dass Flüchtlinge aus der Ukraine zu Opfern von Menschenhandel werden können. Sind Ihnen schon Fälle bekannt?

Schönborn: Erst letzte Woche hatten wir einen Einsatz in einem Bordell. Dort waren vier Ukrainerinnen, die vor dem Krieg geflohen sind. Sie haben Kinder. Wir haben jetzt den Kontakt und werden dranbleiben. Wie viel Zwang dahintersteckt, weiß ich noch nicht. Ich bin aber sehr schockiert, wie schnell sich der Ukraine-Krieg im Milieu bemerkbar macht.

IDEA:Was muss sich bei dieser Thematik in der Gesellschaft ändern?

Schönborn: Wir müssen die sogenannten Freier mehr in den Blick nehmen. Die Männer sind die Verursacher des Problems. Es ist mittlerweile ganz normal in Deutschland, für 10 oder 20 Euro sexuelle Handlungen an einer Frau vorzunehmen. Hier ist ein Umdenken in der Gesellschaft notwendig.

IDEA: Vielen Dank für dieses Gespräch!

In dem Kontakt- und Beratungscafé können die Frauen essen und trinken. Foto: Neustarte e.V.

Mehr zum Thema Zwangsprostitution

Vom 29. Mai bis 1. Juni 2022 findet auf dem Schönblick in Schwäbisch Gmünd der Kongress „Gegen Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung – Auch Christen sind gefragt“ statt. Dazu gibt es u. a. biblische Impulse, Vorträge und Seminare. IDEA ist Medienpartner des Kongresses. Mehr Infos gibt es hier.

 

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