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Interview

„Putin kann sich blind auf die russisch-orthodoxe Kirche verlassen“

22.02.2022

Der Vorstandssprecher der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, Martin Lessenthin. Foto: IGFM
Der Vorstandssprecher der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, Martin Lessenthin. Foto: IGFM

Wie verhält sich die Russische Orthodoxe Kirche im Ukraine-Konflikt? Die Evangelische Nachrichtenagentur IDEA hat den Vorstandssprecher der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM/Frankfurt am Main), Martin Lessenthin, um eine Einschätzung gebeten. Das Interview wurde schriftlich geführt.

IDEA: Die Sorge über eine Eskalation der Ukraine-Krise nimmt zu. Papst Franziskus hat sich mehrfach deutlich geäußert und dazu aufgerufen, den Frieden zu wahren – im Gegensatz zum russisch-orthodoxen Moskauer Patriarchen Kyrill. Warum?

Lessenthin: Patriarch Kyrill schweigt konsequent, weil er den Schulterschluss mit dem russischen Langzeitmachthaber Wladimir Putin pflegt. Wenn Putins Herrschaft wächst, so wächst auch die bereits erdrückende Dominanz der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK), die sich als nationale Institution an der Seite der Regierenden definiert. Alle anderen christlichen Kirchen werden dagegen als „unrussisch“ abgelehnt. Die Rolle als Staatskirche hat sich bisher für die ROK ausgezahlt. Nicht nur, dass Putin und seine Elite sich persönlich zur ROK bekennen, sie zeigen auch, dass sie bereit sind, sich politisch als Protektor der russischen Orthodoxie zu betätigen, und deshalb innen- und außenpolitisch aktiv werden. Die Konsequenzen müssen jetzt die Ukrainer ertragen.

IDEA: Wie äußert sich die russisch-orthodoxe Kirche aktuell zu dem Konflikt? Welche Rolle könnte sie bei der Befriedung des Konflikts spielen?

Lessenthin: Sie unterdrückt Kritik aus den eigenen Reihen und versucht konsequent, sich nicht zu äußern. Die ROK zeigt zugleich, dass sie immer auf der Seite des russischen Militärs steht. Sie bemüht sich konsequent um staatstragende Nähe zur Putin Administration und zum Militär. Die ROK hat offensichtlich ein höheres Interesse an der russischen und damit auch der eigenen Machterweiterung als an Frieden und Menschenrechten. Ihr politischer Einfluss reicht aber nicht aus, um gegen Putin eine Friedenspolitik zu betreiben. Das ist aber auch aus strategischen Gründen nicht im Interesse des Patriarchates, das sich mit Putin in eine Schicksalsgemeinschaft begeben hat.

IDEA: Wie eng ist die Beziehung zwischen der russisch-orthodoxen Kirche und dem Kreml?

Lessenthin: Die ROK ist dank Putin eine nationale Institution. Putins Macht reicht aber auch, die russisch-orthodoxe Kirche zu schwächen und politisch kaltzustellen, wenn sie nicht kooperiert. Der Kreml – das heißt der Kreml-Herrscher Putin – kann sich daher weiterhin blind auf die ROK verlassen.

IDEA:Wie erklären Sie sich diese patriotische Haltung?

Lessenthin: Das war am Beginn der Weg des Überlebens, dann des Wachsens und der politischen Legitimierung. Inzwischen ist es der erfolgreiche Weg, staatliche Macht in eigene Macht zu wandeln und sich als religiös-moralische Instanz für die politische Herrschaft unentbehrlich zu machen. Die russisch-orthodoxe Kirche nimmt dabei vor allem seit dem Amtsantritt von Präsident Putin im Jahre 2000 eine prägende Rolle ein. Heute ist die ROK eine in das staatliche Machtgefüge integrierte Institution, die sich den politisch-strategischen Interessen des Regimes anpasst und unterordnet.

Die Kirche nutzt ihren gewonnenen Einfluss wiederum, um ihre Positionen auszuweiten, was sich vor allem im Umgang mit religiösen, ethnischen und sexuellen Minderheiten, aber auch politisch Andersdenkenden erweist. Das Verhältnis lässt sich daher am treffendsten mit einer „Kooperation von Altar und Thron“ beschreiben.

IDEA: Welche Rolle wird die russisch-orthodoxe Kirche künftig in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk spielen?

Lessenthin: Sie wird die dominierende gesellschaftliche Kraft sein und die Russifizierung der dort verbleibenden Ukrainer vorantreiben. Sie wird sich auch daran beteiligen, das Feindbild einer verwestlichten Rest-Ukraine wachzuhalten und zu vertiefen.

IDEA: Wie verhält sich die Russisch-Orthodoxe Kirche gegenüber anderen Religionsgemeinschaften?

Lessenthin: Das Verhältnis zwischen orthodoxer Kirche und den anderen Reli­gionsgemeinschaften ist von Dominanzstreben und Konflikten gezeichnet. Die Privilegien der ROK und deren Einmischung in Bereiche des öffentlichen Lebens beklagen sowohl Protestanten und Katholiken als auch Muslime und Juden. Sie leiden an versuchter Marginalisierung und werden im Gegensatz zur ROK vom Staat nicht unterstützt. Von der Russischen Orthodoxen Kirche werden sie als „ausländische Glaubensgemeinschaften“ diffamiert. Darunter leiden vor allem die etwa 20.000 evangelischen Baptisten in Russland, aber auch Katholiken. Die Ausübung nicht-orthodoxen Glaubens wird staatlich nicht gefördert, während die ROK großzügige Summen erhält. Zudem wird der Bau von Gebetsstätten und Kirchen jenseits der Orthodoxie erschwert.

IDEA:Welche Rolle spielt der Straftatbestand der „Beleidigung religiöser Gefühle“?

Lessenthin: Diesen Straftatbestand gibt es seit 2013. Er stellt beispielsweise missionarische Aktivitäten nicht-orthodoxer Gruppen potenziell unter Strafe. Insbesondere die etwa 175.000 Zeugen Jehovas sehen sich seither einem Extremismusverdacht ausgesetzt. Im Februar 2019 wurde eine Gruppe dänischer Zeugen Jehovas wegen „Spionage“ zu sechs Jahren Haft im Straflager verurteilt. Gegen mehr als 80 Mitglieder der christlichen Sekte wurde wegen „Zugehörigkeit zu einer extremistischen Organisation“ ermittelt. Auch die jüdische russische Gemeinde klagt über zunehmende Repressionen.

Religionsfreiheit ist in Russland grundsätzlich garantiert und wird auch weitgehend respektiert. Jedoch treten die politisch-religiösen Verbindungen vermehrt auch in Bezug auf religiöse Minderheiten zutage. So wird die mehrheitlich muslimische Bevölkerung der südkaukasischen Teilrepubliken, vor allem in Inguschetien und Tschetschenien brutal unterdrückt. Jedoch ist diese Diskriminierung eher auf die politischen Unabhängigkeitsbestrebungen zurückzuführen, außerdem gab es in Tschetschenien in den letzten Jahrzehnten immer wieder islamistisch motivierte Terroranschläge.

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