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Interview

„Es gibt eine Sehnsucht nach Orientierung“

06.06.2022

Der Erfurter Meinungsforscher Hermann Binkert. Foto: privat
Der Erfurter Meinungsforscher Hermann Binkert. Foto: privat

Der Erfurter Meinungsforscher Hermann Binkert erhebt die Stimmung im Volk. Er weiß, wie die Gesellschaft sich verändert und welche Werte Deutschland prägen. Mit ihm sprach Matthias Pankau. Der Beitrag ist zuerst im KCF-Magazin erschienen. Das Magazin kann kostenlos unter kcf.de/magazin bestellt oder als E-Paper gelesen werden.

IDEA: Herr Binkert, welche Werte prägen Deutschland?

Binkert: Werte haben in Deutschland einen guten Ruf. Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz sind den Deutschen wichtig. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, unser Grundgesetz, findet sehr breite Akzeptanz. Die überwältigende Mehrheit im Land ist stolz auf dieses Grundgesetz. Dabei sind vielen sicher die Wurzeln gar nicht mehr bewusst.

IDEA: Deutschland gilt als christlich geprägt. Welche Rolle spielen biblische Werte heute tatsächlich noch in der Gesellschaft?

Binkert: Nur noch jeder Achte bezeichnet sich sehr klar als Christ. Ein weiteres Drittel sieht sich als eher christlich. Jeder zweite Befragte in Deutschland sagt, er sei eher oder gar nicht christlich. In Ostdeutschland bezeichnen sich sogar zwei von drei Befragten als eher oder gar nicht christlich.

Im Unterschied dazu bleibt vieles, was christlich inspiriert ist, von der Familie bis zur Kultur, den Menschen wichtig. Die Kirchen haben ihre prägende Kraft verloren, das Christentum nicht. Auch dort nicht, wo es den Leuten gar nicht mehr bewusst ist.

IDEA: Woran denken Sie?

Binkert: An den großen Zuspruch für die Familie, über 80 Prozent sehen sie positiv. Daran, dass Angehörige ganz überwiegend zu Hause gepflegt werden, an den vielen ehrenamtlich Engagierten. Bei Katastrophen ist die Hilfsbereitschaft riesig. Und gerade auch in den kleinen und mittelständischen Unternehmen wird eine Kultur des Miteinanders gepflegt, die ein wichtiges Fundament unserer Wirtschaftskraft ist.

IDEA: Die beiden großen Kirchen verlieren Jahr für Jahr rund eine halbe Million Mitglieder. Woran liegt das in Ihren Augen?

Binkert: Die Gründe sind sicher vielfältig. Nicht jeder, der der öffentlichrechtlichen Körperschaft den Rücken kehrt, hat seine christliche Überzeugung verloren. Wir stellen fest, dass einerseits die Zahl der Gläubigen in den Kirchen abnimmt, andererseits die Zahl der Gläubigen außerhalb der Kirchen zunimmt. Es gibt eine Sehnsucht nach Orientierung, nach der Frohen Botschaft. Aber immer weniger gelingt es den institutionellen Kirchen, Antworten auf diese Sehnsucht zu geben.

IDEA: Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn Religion an Bedeutung verliert – in diesem Fall der christliche Glaube?

Binkert: Unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung fußt auf dem Fundament des christlichen Glaubens. Wenn immer mehr Menschen sich dieses Fundaments nicht mehr bewusst sind, ist auch die freiheitliche Gesellschaftsordnung gefährdet.

All jenen, die eine „politische Wende“ wünschen, sei gesagt, dass die Voraussetzung dafür eine „geistig-moralische Wende“ ist. Am 1. Oktober dieses Jahres werden es 40 Jahre, dass Helmut Kohl – mit einem konstruktiven Misstrauensvotum – zum Bundeskanzler gewählt wurde. Die „geistig-moralische Wende“, die er damals als entscheidend ansah, steht immer noch aus.

IDEA: Ist eine wertebasierte Gesellschaft ohne das Fundament der Religion überhaupt möglich?

Binkert: Nach aller Erfahrung und nach meiner persönlichen Überzeugung: nein!

IDEA: Welche Werte oder Ideale werden den Deutschen wichtiger, wenn es der Glaube nicht mehr ist?

Binkert: Ich freue mich, dass die Familie von den Deutschen so wertgeschätzt wird. Es sind nicht die Werte, die nicht mehr strahlen. Es fehlen die Mutmacher, die Vorbilder, die dazu motivieren, die Ideale, auch wenn sie anstrengend sind, nicht aufzugeben.

Viele orientieren sich an der veröffentlichten Meinung. Ich bin immer wieder überrascht, wie stark Medien, die veröffentlichte Meinung, die öffentliche Meinung prägen. Aber wir wissen auch, dass immer mehr sich nicht mehr trauen, ihre Meinung öffentlich zu sagen. Die Gräben werden tiefer. Jeder igelt sich in seiner Blase ein.

Wo der Glaube schwindet, wächst die Beliebigkeit. Wer die Frohe Botschaft nicht kennt, wer meint, alles aus eigener Kraft leisten zu müssen, wer nach dem Motto „nach mir die Sintflut“ lebt und wem die Hoffnung auf eine Gerechtigkeit, die nicht von dieser Welt ist, und die Zuversicht auf das ewige Leben fehlt, der wird nicht nur den Wert des Lebens seiner Mitmenschen, sondern auch den Wert seines eigenen Lebens nicht schätzen können.

Jeder von uns hat nach meiner festen Überzeugung die Aufgabe, den Menschen, mit denen er in Kontakt kommt, zu sagen, dass der Glaube an Gott zwar die freie Entscheidung eines jeden ist, dass der Gott, den wir bekennen, aber erwartet, dass jede und jeder offen ist für seine Botschaft der Liebe. Von dieser Erwartung Gottes an jeden von uns reden wir nicht so gerne, weil sie uns fordert.

IDEA: Wo innerhalb der Gesellschaft beobachten Sie derzeit den stärksten Wertewandel?

Binkert: Bei denen, die mit der Masse schwimmen. Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Unsere Zeit braucht wieder Vorbilder, die bereit sind, sich der Wahrheit wegen unbeliebt zu machen.

IDEA: Haben die Deutschen trotz aller Herausforderungen wie der Corona-Krise und dem Krieg in der Ukraine Grund, hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen?

Binkert: Die Deutschen schauen grundsätzlich eher optimistisch in ihre persönliche Zukunft. Wenn sie perspektivisch Ängste äußern, dann ist das nicht der Krieg in der Ukraine oder die Corona-Pandemie, sondern dann ist das die Angst vor der Einsamkeit, Altersarmut und pflegebedürftig zu werden.

Hermann Binkert (Erfurt) ist Geschäftsführer des Marktund Sozialforschungsinstituts INSA-Consulere. Er ist Referent beim nächsten Kongress Christlicher Führungskräfte (KCF) kcf.de, der vom 27. bis 29. April 2023 in Berlin stattfindet. Veranstalter des KCF ist die Evangelische Nachrichtenagentur IDEA.

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