Kommentar
Ein rosa Strohhalm – und die andere Seite der Wirklichkeit
10.09.2022
Was der Bibelvers „Tu deinen Mund auf für die Stummen“ für christliche Lobbyarbeit in Berlin bedeutet: Ein Beitrag von Uwe Heimowski
Die erste Sitzungswoche nach der parlamentarischen Sommerpause. Viele Termine, viele Begegnungen. Mit einer Gruppe von engagierten jungen Frauen treffe ich mich im Berliner Büro der Evangelischen Allianz in Deutschland. Eine von ihnen sitzt im Rollstuhl. Sie ist im Außenministerium für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zuständig. Ich biete Kaffee an. Doch als ich die Tassen reiche, merke ich, dass die Frau im Rollstuhl sie mit ihren Händen nicht halten kann. Ich stelle sie auf den Tisch. Was tun? Die junge Frau zückt einen Trinkhalm, den sie in die Tasse steckt. Sie hat mir eine Brücke gebaut.
Nach dem Gespräch räume ich die Tassen in die Spülmaschine. Der rosa Trinkhalm wandert in den Abfall. Doch ich besinne mich, nehme ihn heraus, spüle ihn und lege ihn auf meinen Schreibtisch. Er wird mich erinnern: An einen kleinen Moment, wenige Sekunden, die darüber entschieden haben, einen Menschen einzuladen oder auszugrenzen.
Die andere Seite der Wirklichkeit nehme ich selten wahr. Wie soll ich auch daran denken, dass eine körperliche Einschränkung den Gebrauch einer Kaffeetasse unmöglich macht? Ich selbst kann ja beide Hände uneingeschränkt gebrauchen – und fast alle meine anderen Gäste auch. Oder: Wie soll ich als Mann alltägliche Anzüglichkeiten gegen Frauen bemerken? Wie als Weißer wahrnehmen, welchen Kränkungen Schwarze ausgesetzt sind?
Ich muss an Sprüche 31,8 denken: „Tu deinen Mund auf für die Stummen.“ So verstehe ich christliche Lobbyarbeit: Eine Stimme zu sein für Verfolgte, Unterdrückte, Vergessene, für Menschen mit Behinderungen. Aber dafür muss ich ihre Perspektive erst einmal wahrnehmen.
Manchmal braucht es einen Strohhalm, um die andere Seite zu sehen.
(Der Autor, Uwe Heimowski (Berlin), ist Politikbeauftragter der Evangelischen Allianz in Deutschland.)
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