Frei-/Kirchen
Sind die Kirchen zu staatstragend?
21.04.2020

Wetzlar (idea) – Ohne großes Murren hatten die Kirchen zu Beginn der Corona-Pandemie zugestimmt, dass in ihren Gotteshäusern keine Versammlungen stattfinden dürfen. Es gab keinen Aufschrei, als der Staat anordnete, auf Gottesdienste vor Ort zu verzichten. Sind die Kirchen in der Corona-Krise zu staatstragend? Darauf antworten zwei Theologen in einem Pro und Kontra für die Evangelische Nachrichtenagentur idea (Wetzlar).
Seubert: Das Einschneidende des Gottesdienstverbotes wurde nicht deutlich
Prof. Harald Seubert (Basel) – auch Philosoph – sieht die Rolle der evangelischen Kirche kritisch. Das Verbot von Gottesdiensten rühre an das Herz der Religionsfreiheit. Wenn der Staat in Belange von Kirche und Religionsausübung eingreife, so sei durch die Kirche eine eigenständige Prüfung und Besinnung auf das Zentrum des christlichen Glaubens erforderlich: „Grundstrukturen evangelischen Christseins wie die Zwei-Reiche-Lehre sind faktisch außer Kraft gesetzt.“ Von all dem sei von den maßgebenden EKD-Stellen, aber auch vom Postevangelikalismus nichts zu hören gewesen: „Das Einschneidende des Schrittes wurde nicht deutlich.“ Der Journalist und Theologe Peter Hahne und wenige andere seien „einsame klare Rufer in der Wüste mit dem eindeutigen Votum gewesen: ‚Macht die Kirchen am Karfreitag und an Ostern auf! Dass dabei hohe Sorgfalt zu beachten wäre, versteht sich von selbst.“ Das Problem liege tief: „Eine ‚Öffentliche Theologie‘, die sich als Fortsetzung des gesellschaftlichen Mainstream-Konsenses versteht, hat keine eigenständige Kraft. So wurde die Kirche, deren Mitte der Gottesdienst in Klage, Lob und Hören auf Gott ist, unsichtbar.“ Das verbreite Geist- und Trostlosigkeit in einer Zeit, „in der das Glaubenszeugnis so wesentlich wäre“. Glücklicherweise hätten einzelne Pastoren diesen Eindruck konterkariert. Seubert leitet den Fachbereich Philosophie, Religions- und Missionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel.
Anselm: Gottesdienstverbot richtet sich nicht gegen die Kirchen
Die Gegenmeinung vertritt Prof. Reiner Anselm (München), der auch Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD ist. Er ist überzeugt: „Wer den Staat beim Schutz der Gesundheit unterstützt, handelt nicht staatstragend, sondern nimmt selbst Verantwortung für den Nächsten wahr. Könnten Christen, könnten die Kirchen im Ernst anders handeln?“ Man stelle sich nur vor: „Während die Schulen geschlossen werden und die Altenheime in einer schwierigen Abwägung für Besucher gesperrt werden, entwickeln sich Gottesdienste zu den Hotspots der Ansteckung.“ Wer hier in den Kirchenkampf ziehen und das staatliche Verbot von Gottesdiensten als Widerstand fordernde Übergriffigkeit des Staates in kirchliche Angelegenheiten brandmarken wolle, habe etwas Wesentliches übersehen: „Das Verbot der Gottesdienste richtet sich nicht gegen die Kirchen. Es verfolgt vielmehr deren ureigene Ziele, den Einsatz für die Kranken und Schwachen.“ Deshalb sei es konsequent und richtig gewesen, ein solches Verbot aus eigenen Stücken anzunehmen und zu unterstützen. Sobald es nun erste Lockerungen gebe, muss dies laut Anselm auch für die Gottesdienste gelten. Es gehe darum, gleiches Recht zu fordern: Kleine Gottesdienste unter strengen Hygieneregeln: „Denn auch Religion dient der Gesundheit, nicht am Leib, sondern an der Seele.“ Anselm lehrt Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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