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Porträt

Die lebende Märtyrerin

20.02.2019

Samihas Ehemann Koleny sitzt erschöpft in einem Sessel im Wartezimmer des Uniklinikums Aachen. Der 80-Jährige ist seit 7 Uhr auf den Beinen, um seine Frau heute bei wichtigen Untersuchungen begleiten zu können. Immer wieder nickt er ein und beginnt, leise zu schnarchen. Andere Patienten schauen irritiert oder schmunzeln. Für Samiha Tawiq und ihren Mann Koleny Farag war der Weg bis hierher lang und beschwerlich.

Die Bombe explodierte im Gottesdienst

Samiha betritt das Wartezimmer. Sie ist eine kleine, zierliche Frau. Das Ausmaß ihrer Verletzungen ist erschütternd. Narben ziehen sich durch ihr entstelltes Gesicht. Dort, wo einmal ihr rechtes Auge war, sind nur noch eine eingefallene Höhle und einige wenige Wimpern zu sehen. Teile ihres Kiefers existieren nicht mehr. Sie wirkt freundlich, wenn auch etwas unsicher und schüchtern. Beim gemeinsamen Gang durch die Krankenhausflure erinnert sie sich: Am 11. Dezember 2016 saß sie gemeinsam mit ihrem Mann im Gottesdienst in der Sankt-Peter-und-Paul-Kirche in Kairo, als ein IS-Kämpfer mit Sprengstoffgürtel sich in die Luft sprengte. Sie fasst das schreckliche Resultat des Attentats zusammen: „30 Menschen starben bei der Explosion, 49 wurden verletzt: Eine davon war ich.“ Ihr Mann, der – wie in der koptischen Kirche üblich – getrennt von seiner Frau auf der Männerseite saß, überlebte fast unverletzt. Samiha verlor nahezu ihre gesamte rechte Gesichtshälfte; auch ihre Schulter und Hand wurden schwer verletzt. Unter den Todesopfern waren viele ihrer Freundinnen.

Zum Sterben liegen gelassen

Samiha wurde ins Krankenhaus gebracht. Sie erinnert sich an die ersten Stunden dort nur bruchstückhaft – immer wieder wurde sie bewusstlos. „Als ich das erste Mal zu mir kam, sah ich einen hellstrahlenden Christus wie in einer Vision vor mir. Das beruhigte mich, und ich wurde wieder bewusstlos.“ Ihr Mann Koleny suchte sie derweil verzweifelt in der Klinik unter den Verletzten des Anschlags. Er hatte anfangs Mühe, in der Patientin „Nr. 99“ seine Frau zu erkennen, so schwer verletzt war sie. „Die Ärzte haben sie einfach im Krankenbett liegen lassen. Sie dachten, meine Frau würde sowieso bald sterben, und kümmerten sich daher um die anderen Notfälle.“ Doch die 55-Jährige starb nicht. „Als sie um 23 Uhr nach über 13 Stunden noch lebte, versorgte man sie endlich und versprach mir, alles Menschenmögliche für sie zu tun.“

Der Weg nach Deutschland

Die Koptin verliert das rechte Auge, einen großen Teil ihres rechten Kiefers und ihr Ohr. Ihre Nase ist ebenfalls teilweise zerstört. Sie hat große Mühe, zu essen und zu trinken, zu atmen und zu sprechen. Die zerstörten Muskeln und Sehnen in ihrem rechten Bein und Arm machen sie ungelenkig. Ihr Gang ist langsam und unsicher. Die Regierung handelt schnell: Präsident Abdel Fattah al-Sisi verspricht, die Kosten der Behandlungen und Operationen aller Opfer zu übernehmen – egal ob in Ägypten oder im Ausland. Die ganze Zeit steht der deutsche Zweig von Open Doors mit ihr in Kontakt, besucht und ermutigt sie. Samiha erhält mehrere Operationen in Ägypten und vier in Ungarn. Auf die offenen Partien in ihrem Gesicht wird Haut aus den Schenkeln transplantiert und so behelfsmäßig geschützt. Schön findet sie das nicht. In Aachen soll nun der „Feinschliff“ kommen. Hier wollen ihr die Ärzte wichtige Funktionen wie Essen und Sprechen wiedergeben und schließlich auch ihr Gesicht wieder „vervollständigen“.

Samiha fasst während der zahlreichen Arzttermine zunehmend Vertrauen zu ihrem Umfeld und macht sogar kleine Scherze. In ihr steckt eine Frau, die das Leben liebt und ihm positiv entgegenblickt. „Ich freue mich auf die Eingriffe. Dann werde ich wieder mehr wie eine Frau aussehen.“ Fotos beweisen: Samiha war hübsch. Der Anschlag hat ihr Leben völlig verändert – nicht nur körperlich.

Unterstützung durch die koptische Gemeinde

„Ich wünsche mir wieder Normalität“, gibt Samiha zu. Aber sie weiß, dass diese wohl noch lange auf sich warten lassen wird – wenn sie überhaupt wiederkommt. „Für viele Kopten bin ich eine lebende Märtyrerin“, gesteht sie. Immer wieder kommt es zu Anschlägen auf koptische Christen in Ägypten. Die Opfer werden verehrt, weil sie für ihren Glauben gestorben sind oder gelitten haben. „Wir werden von unseren Geschwistern sehr unterstützt. Sie bringen Lebensmittel und kümmern sich um alles, was wir brauchen.“ Das enge Netzwerk, das Kopten weltweit miteinander unterhalten, fängt Samiha und ihren Mann auch in Deutschland auf. Vor der ersten Operation leben sie im koptischen Kloster Waldsolms-Kröffelbach. In Aachen kümmert sich der Diakon der dortigen koptischen Kirche, Kamal Abadir, um sie und übersetzt fast rund um die Uhr.

Deutschland für die Seele

Auch wenn die 55-Jährige Ägypten liebt, sie vermisst es derzeit nicht. „Seit dem Anschlag habe ich Angst auf der Straße, es könnte mir wieder etwas Schlimmes passieren.“ Allgegenwärtig sei die Sorge vor erneuten Übergriffen durch Islamisten. Samiha betont, sie und ihr Mann hätten durchaus gute Kontakte zu Muslimen – etwa mit den Nachbarn. Das Problem seien die Radikalen unter ihnen, die den christlichen Glauben nicht akzeptierten und deshalb das Leben der Kopten bewusst erschwerten. Das Ehepaar nutzt seine Zeit in Deutschland, um zur Ruhe zu kommen: „Hier ist es so friedlich.“ Das tue ihnen gut, und sie könnten sich trotz der vielen Termine und der Operationen ein wenig entspannen.

Gebet für die Attentäter

Von dem Täter Mahmoud Shafiq Mohammed Mustafa (22) blieb nach dem Anschlag nur ein Bein übrig, wie das Ehepaar berichtet. Medienberichten zufolge hatten die Behörden den Studenten bereits 2014 wegen möglicher Verbindungen zur verbotenen Muslimbruderschaft zwei Monate inhaftiert und verhört. Dort soll er sich aufgrund der brutalen Behandlung radikalisiert haben. Nach dem Anschlag bekannte sich die Terrororganisation „Islamischer Staat“ zur Tat Mustafas. Samiha empfindet Mitleid für den jungen Mann: „Er war gehirngewaschen.“ Sie sei von einem Fernsehsender gefragt worden, ob sie Rachegedanken habe. „Nein! Ich bete, dass Gott die Herzen der Menschen, die für die Explosion verantwortlich waren, berührt, sie verändert und ihnen seinen Weg zeigt.“ Als bei einem Attentat auf einen Bus nahe der oberägyptischen Stadt Minya am 2. November 2018 sieben Kopten starben, sei sie sehr traurig gewesen und habe gebetet: „Gott, es ist genug.“ Sie habe mit den Opfern und ihren Angehörigen mitgefühlt. Den Ruf nach Rache bei der Beerdigung der Toten, den auch koptische Christen durchaus äußerten, könne sie zwar nachempfinden, aber nicht gutheißen: „Wenn wir hier auf der Erde keine Gerechtigkeit erhalten, dann spätestens im Himmel.“ Durch den Anschlag hat ihr Glaube an Tiefe gewonnen. Trotz der furchtbaren Erfahrungen gehe sie mit ihrem Mann weiter in die Peter-und-Paul-Kirche in Kairo – so wie viele andere Betroffene auch. Die Zahl der Gottesdienstbesucher habe sich von 200 vor dem Anschlag auf mindestens 500 mehr als verdoppelt.

Samiha und ihr Mann bleiben voraussichtlich noch bis September in Aachen. Ihre erste Operation verlief gut. Wie viele und wann weitere folgen werden, ist noch unklar.

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