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Interview

Deutschland muss Kriegsverbrechen in Afrin verurteilen

20.03.2018

idea: Wie sieht die aktuelle Lage in Afrin aus?

Sido: Die türkische Armee hat die Kontrolle in Afrin übernommen. Um das Leben der Zivilisten in der Stadt zu schonen, hat sich die kurdische Miliz YPG zurückgezogen. Die Leichen liegen auf den Straßen. Es ist von Plünderungen und Morden an Zivilisten durch die Eroberer unter den Rufen „Allahu Akbar“ (Gott ist größer) die Rede – gleich einem Raubzug im Sinne des radikalen Islams. Das einzige Krankenhaus in Afrin wurde nur einen Tag zuvor mit Granaten beschossen. Augenzeugen zufolge starben dabei mindestens 18 Zivilisten, weitere 50 wurden verletzt. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser ist wegen der vorherigen Belagerung sehr schwierig. Ein Teil meiner Familie lebt in der Stadt. Mit meiner Mutter und meinen Brüdern habe ich seit einigen Tagen keinen Kontakt mehr. Wo sie sich genau befinden, ist mir nicht bekannt. Vielleicht sind sie auch geflohen – wie geschätzt 150.000 bis 300.000 der Einwohner.idea: Sprach zu Anfang die deutsche Regierung noch von „begründeten Sicherheitsinteressen“ der Türkei, hat nun der deutsche Bundestag fast einstimmig von einem „Angriffskrieg“ gesprochen. 

Sido: Das stimmt. Auch das EU-Parlament hat kürzlich ein Ende der Kämpfe gefordert. Doch aus meiner Sicht kommt das alles zu spät. Seit 2011, nach dem Beginn der Revolte, informiere ich die Bundesregierung und das EU-Parlament regelmäßig persönlich über die Situation in Syrien – und nun auch insbesondere in Afrin. Das Schweigen der deutschen Regierung – trotz der vielen Informationen – und die gleichzeitig weiterlaufenden Waffenlieferungen an die Türkei sind für mich Ausdruck einer Komplizenschaft mit der islamistischen Regierung Recep Tayyip Erdogans. Der jüngste Angriff auf das Krankenhaus in Afrin und die Bombardierung des einzigen Fluchtwegs aus der Stadt nach Nord-Aleppo ist eine massive Verletzung des Genfer Abkommens. Deutschland und die NATO-Staaten müssen ein sofortiges Ende der Kriegsverbrechen ihres NATO-Partners Türkei verlangen und eine Bestrafung der Verantwortlichen für die Verbrechen fordern. Auch ein Abzug der Türkei und der Islamisten aus Afrin muss gefordert werden.

Erdogan hasst die Region – sie ist ihm nicht muslimisch genug

idea: Seit Beginn der Angriffe auf Afrin im Februar durch die türkische Armee und mit ihnen verbündete syrische radikal-islamistische Gruppierungen kommen Hilferufe der Christen aus der Stadt. Wie viele Christen leben dort, und wie sah das Zusammenleben mit den Muslimen dort bislang aus?

Sido: 95 Prozent der Menschen in der Region sind kurdischer Abstammung und überwiegend sunnitische Muslime. In der Vergangenheit gehörten aber viele von ihnen der alevitischen Glaubensrichtung an oder waren Jesiden. Insgesamt zeichnet diese Region eine hohe Toleranz gegenüber anderen Religionen aus. Nach den Gräueltaten des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) in den vergangenen Jahren wandten sich viele Muslime dem Christentum zu, weil sie die Nase voll hatten vom radikalem Islam. Ihre muslimischen Nachbarn akzeptierten dies. Aus meiner Sicht ist das einer der Gründe, weshalb Erdogan diese Region so hasst. Wir toleranten Muslime sind aus seiner Sicht nicht muslimisch genug. Er will die Scharia in der Region einführen. Etwa 1.000 Christen befanden sich ursprünglich in der Stadt, viele von ihnen ehemalige Muslime. Wie viele es heute sind, weiß man nicht.idea: Was wird nun mit den Menschen – und insbesondere mit den Christen – in Afrin passieren?

Sido: Der Einmarsch der türkischen Armee könnte das Ende aller religiösen Minderheiten in Afrin bedeuten. Erdogan plant eine Reislamisierung aller – sowohl unter Muslimen wie auch unter anderen Religionen. Darin sehe ich die größte Gefahr, die derzeit von ihm ausgeht. Besonders religiöse Minderheiten werden leiden. Denn bekanntlich sind es immer die schwächsten Glieder einer Gesellschaft, die am stärksten unter Druck geraten – und in Afrin sind das die Christen, Jesiden und Aleviten.

Der radikale Islam ist eine Gefahr für alle

idea: Was wünschen Sie sich von den Christen und Kirchen in Deutschland?

Sido: Als Moslem habe mich stets für die Rechte von Christen eingesetzt. Ich habe nur wenig Verständnis dafür, dass die katholische und evangelische Kirche in Deutschland zur Verfolgung von Christen in Syrien insbesondere in Afrin zumeist schweigt. Aus meiner Sicht müssen beide Kirchen endlich Farbe bekennen und klarstellen, dass der radikale Islam eine tödliche Gefahr für alle ist. Sie dürfen nicht zulassen, dass Erdogan immer stärker wird und Menschen, die sich ihm entgegenstellen, abschlachtet.

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