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Menschenrechte

Politikwissenschaftler: Ausnahmezustand stellt Demokratiefrage neu

29.03.2020

Werden Bürgerrechte in der Corona-Krise zu stark eingeschränkt und verletzt? Foto: pixabay.com
Werden Bürgerrechte in der Corona-Krise zu stark eingeschränkt und verletzt? Foto: pixabay.com

Berlin/Würzburg (idea) – Könnte die Demokratie langfristig unter den aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie leiden? Sind die getroffenen Maßnahmen angemessen? Werden Bürgerrechte zu stark eingeschränkt und verletzt? Fragen wie diese werden seit einigen Tagen verstärkt in den Medien diskutiert. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie (Essen) warnte im Deutschlandfunk vor der längerfristigen Gefahr, „dass wir uns jetzt an einen autoritären Maßnahmenstaat nolens volens gewöhnen“. Er halte es für richtig, dass die Bürger derzeit auf Souveränitäts- und Grundrechte verzichteten und nicht protestierten. Gleichzeitig stelle der Ausnahmezustand aber die Demokratiefrage noch einmal ganz neu. Die Sorge von vielen Verfassungsrechtlern und Vertretern der Zivilgesellschaft sei: „Wie kriegen wir das eigentlich wieder zurückgebogen? Wie kriegen wir den legitimen Zustand der Volkssouveräntiät wieder hin? Werden vielleicht irgendwelche Rechte aus dem Ausnahmezustand weiterhin beschnitten sein?“ Auch das deutsche Grundgesetz sei nicht so krisenfest, wie es auf den ersten Blick scheine, warnte der Politologe.

Lobo: Man kann gegen Ausgangssperren argumentieren und trotzdem kein Massenmörder sein

Der Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen, Gregor Peter Schmitz, schrieb, dass die ökonomische Corona-Vollbremsung neue Risiken gebiere: „Doch wer nur leise Zweifel an einer möglichen Corona-Überreaktion äußert, dem droht der Stempel: ,Unsolidarisch‘. Alles ist scheinbar absolut alternativlos. Ganz offen wird geschwärmt, wie viel besser die soziale Abriegelung in (der Diktatur) China klappt.“ Im Deutschlandfunk bezeichnete es der Journalist Vladimir Balzer als ein „Spiel mit dem Feuer“, dass wir dieses „freie, offene Land ohne Diskussionen und spürbare Widerstände einfach so lahmlegen, dass wir Grundrechte außer Kraft setzen, dass wir Menschen denunzieren, die es wagen, eine Runde im Park zu drehen”. Der Blogger und Journalist Sascha Lobo schrieb auf spiegel.de unter dem Titel „Wider die Vernunftpanik“, es bestürze ihn, dass jetzt auch sich als liberal bezeichnende Leute bereit seien, ausnahmslos jede Grundrechtsbeschränkung klaglos hinzunehmen. Wenn nun der richtige Notfall eintrete, werde eine übergroße Mehrheit bereit sein, „Grundrechte über Bord zu werfen“. Die Vernunftpanik verhindere Debatten: „Dabei ist auch eine sinnvolle Grundrechtseinschränkung eine Grundrechtseinschränkung, über die diskutiert werden kann und muss. Man kann gegen Ausgangssperren argumentieren und trotzdem kein Massenmörder sein.“

Prof. Dreier: Eingriffe in Grundrechte sind nicht automatisch Verletzungen derselben

Der Staatsrechtler Prof. Horst Dreier (Würzburg) sagte gegenüber der Evangelischen Nachrichtenagentur idea, dass die bisherigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie tief in zentrale Grundrechte der Bürger eingriffen. Aber Eingriffe in diese Rechte seien nicht automatisch Verletzungen derselben, betonte Dreier: „Es kommt immer darauf an, ob die Eingriffe gerechtfertigt sind. Und das sind sie, wenn sie ergriffen werden, um andere und vielleicht höhere Rechtsgüter zu schützen. Konkret werden die Maßnahmen ja zum Schutz von Leib und Leben von Menschen in einer unbekannten Größenordnung ergriffen.“

Entscheidend ist die derzeitige Perspektive

Da derzeit große Ungewissheit in den zentralen Fragen herrsche, stehe der öffentlichen Hand ein beträchtlicher Einschätzungsspielraum bei der Frage zu, welche Maßnahmen nötig, unabweisbar und angemessen seien. Möglicherweise stelle sich irgendwann später heraus, dass manche Maßnahme nicht nötig war: „Entscheidend ist aber die derzeitige Perspektive, in der es naturgemäß große Prognoseunsicherheiten gibt.“ Er halte es für unverantwortlich, davon zu sprechen, dass „Grundrechte über Bord“ geworfen würden: „Das werden sie schon deshalb nicht, weil Grundrechtseingriffe das Bestehen des Grundrechts nicht aufheben, sondern es voraussetzen. Und über Bord geworfen werden sie umso weniger, wenn die Maßnahmen befristet werden, wie das der Fall ist.“

Prof. Papier: Aktuelle Ausgangsbeschränkungen sind verfassungsgemäß, aber …

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, schreibt in einer idea-Stellungnahme, dass die Corona-Pandemie ein Test für die rechtsstaatliche Demokratie sei. Er warnt vor weitergehenden Maßnahmen: „Weder die Forderung nach einer besseren Klimaschutzpolitik noch die aktuellen Notmaßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung rechtfertigen die Aufgabe der Freiheitsrechte zugunsten eines Obrigkeits- und Überwachungsstaates.“ Die aktuellen Ausgangsbeschränkungen seien aus seiner Sicht aber noch verfassungsgemäß. Hingegen wären beispielsweise totale Ausgangssperren, die auch nicht zeitlich eng limitiert wären, „verfassungsrechtlich wegen Verstoßes gegen das Übermaßverbot rechtlich problematisch“. Ferner müssen Papier zufolge die aktuellen Beschränkungen aufgehoben beziehungsweise erheblich gelockert werden, wenn die Gefährdungslage es zulässt.

Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Angst essen Freiheit auf

Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) schreibt in einem Beitrag für die Tageszeitung „Die Welt“, dass eine kritische Analyse staatlichen Handelns gerade in der Krise die moralische Pflicht eines jeden mündigen Bürgers sei: „Davon jedoch scheinen sich Teile der Bevölkerung bereits gelöst zu haben. Ministerpräsidenten, die noch keine Ausgangssperren verhängt haben, werden aufgefordert, genau dies zu tun. Der Ruf nach immer mehr Einschränkungen der individuellen Freiheit ist wohl einmalig in der jüngeren Geschichte dieses Landes. Wie so oft zeigt sich: Angst essen Freiheit auf.“

Prof. Möllers: Auch Richter lesen Zeitung und sind anfällig für Stimmungen

Christoph Möllers, Professor für Öffentliches Recht an der Berliner Humboldt-Universität, sagte gegenüber der „Welt am Sonntag“ (Ausgabe 29. März), dass das Infektionsschutzgesetz, das jetzt zur Grundlage des politischen Handelns gemacht werde, die weitreichenden Einschränkungen der Freiheitsrechte der Bürger nicht hergebe: „Man kann auf dieser Grundlage nicht wochenlang ein ganzes Land zumachen.“ Möllers befürchtet laut der Sonntagszeitung, dass Gerichte die Verschärfungen jenes Infektionsschutzgesetzes, die der Bundestag im Eilverfahren beschlossen habe, durchwinken werden: „Auch Richter lesen Zeitung und sind anfällig für Stimmungen.“ Es komme ihm so vor, „als ob jede politische Debatte vermieden werden soll – Hauptsache, das Ergebnis stimmt“.

Erstmalig seit der Christianisierung Europas dürfen keine Ostergottesdienste stattfinden

Der Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, Prof. Hans Michael Heinig (Göttingen), warnt laut „Welt am Sonntag“ vor der Gefahr, „dass sich unser Gemeinwesen von einem demokratischen Rechtsstaat in kürzester Frist in einen faschistoid-hysterischen Hygienestaat“ verwandele. Wie der Kirchen- und Verfassungsrechtler weiter sagte, dürfen „zum ersten Mal seit der Christianisierung Europas keine Ostergottesdienste stattfinden“: „In jedem Krieg, in jeder Katastrophe haben die Gemeinden zusammen gebetet. Natürlich lässt sich das nicht durch Onlinegottesdienste auffangen. Die flächendeckende Absage der Gottesdienste ist auch Ausdruck einer tief greifenden Säkularisierung unserer Gesellschaft.“ Der Bonner Staatsrechtler Prof. Christian Hillgruber forderte im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), die Verhältnismäßigkeit beim Verbot von Zusammenkünften in Kirchen zu wahren. Die Verbote müssten noch hinreichenden Raum für die Entfaltung der Religionsfreiheit belassen.

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