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Menschenrechte

Inobhutnahmen: Das Seelenleid der Kinder und Eltern nicht übergehen

21.06.2020

Meist vergingen bis zu acht Wochen, bis ein Gericht die Entscheidung eines Jugendamts überprüft habe, und mehrere Monate, bis ein Sachverständiger sein Gutachten erstellt habe. Foto: pixabay.com
Meist vergingen bis zu acht Wochen, bis ein Gericht die Entscheidung eines Jugendamts überprüft habe, und mehrere Monate, bis ein Sachverständiger sein Gutachten erstellt habe. Foto: pixabay.com

Berlin (idea) – Vor einer zu schnellen Herausnahme von Kindern aus ihren Familien wegen möglicher Kindeswohlgefährdung warnen Juristen und Soziologen in einem Beitrag in der Welt am Sonntag (Ausgabe 21. Juni). 2018 gab es – es ist die aktuellste verfügbare Statistik – 40.379 Inobhutnahmen wegen akuter Kindeswohlgefährdung. Laut dem Familienrechtsanwalt Rainer Bohm (Solingen) werden Kinder oft aus ihren Familien gerissen, weil die Eltern nach Meinung der Jugendämter überfordert oder nicht erziehungsgeeignet seien. Die Kindeswohlgefährdung sei aber eine „Kaugummiformulierung“, mit der sich nahezu alles begründen lasse. Meist vergingen bis zu acht Wochen, bis ein Gericht die Entscheidung eines Jugendamts überprüft habe, und mehrere Monate, bis ein Sachverständiger sein Gutachten erstellt habe. Das habe schwerwiegende Folgen: „Ausnahmslos alle Kinder reagieren auf das plötzliche Herausgerissenwerden aus ihrem gewohnten Umfeld mit einer schweren Traumatisierung.“

„Symbiotische Mutter-Kind-Beziehung“: Ein höchst umstrittenes Konstrukt

Der Soziologe und frühere Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendhilfe der Hamburger Sozialbehörde, Wolfgang Hammer, hat 42 Fälle aus sechs Bundesländern untersucht, die ihm Betroffene genannt hatten. Als Grund für die Inobhutnahmen sei in diesen Fällen nicht Gewalt oder Vernachlässigung angegeben worden, sondern eine „symbiotische Mutter-Kind-Beziehung“. Das sei ein in der Psychologie und Psychiatrie „höchst umstrittenes Konstrukt“, so Hammer. Zudem müsse es ein Experte diagnostizieren, was in diesen Fällen nicht geschehen sei: „Eine Gefährdungsmeldung, die auf laienhaft formulierten, nicht belegbaren Vermutungen beruht, darf ein Gericht gar nicht nachvollziehen.“ Die Folge sei gewesen, dass in fast allen Fällen die Kindesentziehung nach Monaten aufgehoben worden sei, nachdem ein Gutachter sich eingehend damit beschäftigt habe. Die Kinder seien dann aber bereits traumatisiert gewesen. Sie hätten Essstörungen gehabt, aggressives Verhalten gezeigt, manche hätten sogar mit Selbstmord gedroht.

Familienrechtlerin: Richter und Jugendamt nehmen Rechtsverletzungen in Kauf

Aus Sicht der Anwältin Christiane Knack-Wichmann (Hamburg) könnten die Fälle, in denen Behörden zu spät reagierten und deswegen Kindern in Familien starben, der Grund dafür sein, dass diese nun lieber ein Kind zu viel aus seiner Familie wegnähmen als eines zu wenig. Das Seelenleid der Kinder und Eltern hingegen werde von vielen Familiengerichten übergangen, beklagt die Familienrechtlerin. In den vergangenen 20 Jahren habe es zunehmend mehr Inobhutnahmen „aus nichtigen Gründen“ gegeben. „Oft werden Behauptungen des Jugendamtes gar nicht mehr überprüft. So nehmen sowohl Richter als auch das Jugendamt Rechtsverletzungen in Kauf.“ Das bedeute, dass ein Sachbearbeiter nichts zu befürchten habe, wenn er zu drastischen Mitteln gegriffen und dabei Fehler gemacht habe. Knack-Wichmann fordert mehr Rechte für die Eltern. Zudem sollten unabhängige Psychologen jeden Einzelfall prüfen. Der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter, Lorenz Bahr (Köln), widerspricht Knack-Wichmann: Die oberste Prämisse der Jugendämter sei es, das Kindeswohl zu schützen.

Sonntagszeitung: Ein Heimplatz bringt 73.000 Euro im Jahr

Anwälte und Experten kritisieren zudem laut der Sonntagszeitung, dass die Vertreter der Heime in einem Verfahren in einer Doppelrolle aufträten. Ein Heimplatz bringe ihnen durchschnittlich 73.000 Euro im Jahr. Weniger Kinder bedeuteten weniger Einnahmen. Dennoch würden die Aussagen des Heimpersonals vor Gericht oft gewertet, als hätten unabhängige Gutachter gesprochen. Die Bundesregierung plant der „Welt am Sonntag“ zufolge, das Kinder- und Jugendhilferecht zu reformieren. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) wünsche sich ferner deutschlandweit unabhängige und neutrale Ombudsstellen, an die Eltern und Kinder sich wenden können, um ihre Beschwerde einzulegen.

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