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Interview

Ukraine: Wiedervereinigung der orthodoxen Kirchen liegt in weiter Ferne

13.06.2022

Die Orthodoxie-Expertin Dagmar Heller vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes in Bensheim. Foto: Privat
Die Orthodoxie-Expertin Dagmar Heller vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes in Bensheim. Foto: Privat

Die orthodoxe Kirche in der Ukraine ist tief gespalten. Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK) hat am 27. Mai ihre Unabhängigkeit vom Moskauer Patriarchat erklärt. IDEA-Redakteur Daniel Scholaster hat die Orthodoxie-Expertin Dagmar Heller vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes in Bensheim um eine Einordnung gebeten.

IDEA: Welche Konsequenzen hat die Erklärung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (UOK) des Moskauer Patriarchats, sich von Moskau loszusagen?

Heller: Zunächst einmal keine konkreten. Die UOK war schon zuvor weitgehend autonom. Eine der wenigen Einschränkungen war die Pflicht, ein neu gewähltes Oberhaupt der Kirche vom Patriarchen in Moskau bestätigen zu lassen.

Außerdem liefen die Kontakte der UOK zu anderen Kirchen ebenfalls über das Patriarchat in Moskau, das die gesamte Russische-Orthodoxe Kirche (ROK) nach außen vertritt. Für die Gläubigen ändert sich ohnehin nichts. Theologisch und liturgisch unterscheiden sich die orthodoxen Kirchen in Russland und der Ukraine nicht voneinander. Es geht hier allein um Politik beziehungsweise Kirchenpolitik.

IDEA: Warum verzichteten die Ukrainer in der Erklärung auf die Verwendung des Worts „Autokephalie“?

Heller: „Autokephalie“ (von griech.: „autos“ – selbst und „kephale“ – Haupt) bezeichnet in der Orthodoxie eine souveräne und eigenständige Kirche. Grundsätzlich kann es nach orthodoxer Auffassung in jedem Land nur eine orthodoxe Kirche geben. Das Oberhaupt einer solchen Kirche hat keinen Vorgesetzten.

Der Ökumenische Patriarch in Konstantinopel hat allerdings einen Ehrenvorrang vor den anderen orthodoxen Kirchenoberhäuptern. Das Besondere daran ist, dass die Autokephalie nicht selbst erlangt, sondern nur verliehen werden kann. Seitdem die Ukraine 1991 unabhängig geworden war, hat die UOK den Patriarchen in Moskau mehrfach ersucht, sie in die Selbstständigkeit zu entlassen, was jedes Mal abgelehnt wurde.

Das ist auch nicht verwunderlich. Ihr Ausscheiden wäre für die ROK ein schmerzhafter Verlust. Auf der anderen Seite ist es ebenso unwahrscheinlich, dass der Ökumenische Patriarch Bartholomäus der UOK die Autokephalie verleiht. Denn diesen Status hat er 2019 bereits der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) zugebilligt, deren Vorgängerkirchen sich zu unterschiedlichen Zeiten vom Moskauer Patriarchat abgespalten hatten.

IDEA: War das Ihrer Einschätzung nach eine freie Entscheidung oder geschah das auf Druck der ukrainischen Regierung?

Heller: Während der Amtszeit von Präsident Petro Poroschenko (2014–2019) sah sich die UOK in der Tat einer gewissen Feindseligkeit ausgesetzt. Diese ging allerdings weniger von der Regierung selbst als von einzelnen Extremisten aus, die ihr vorwarfen, als fünfte Kolonne Moskaus zu agieren. Die derzeitige Opposition hat im März dieses Jahres sogar ein Verbot der UOK gefordert.

Poroschenkos Nachfolger Wolodymyr Selenskij hält sich dagegen in Religionsangelegenheiten bewusst zurück. Auch mit der OKU liegt die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche seit längerem im Streit. Insofern lastet hier schon ein Druck auf der Kirchenleitung, aber ich würde das auch nicht überbewerten, da der Wunsch nach Eigenständigkeit schon länger vorhanden war. Allerdings kann die UOK den Vorwurf der Moskauhörigkeit nun deutlich überzeugender von sich weisen.

IDEA: Wie schätzen Sie die Chancen für eine Wiedervereinigung der orthodoxen Kirchen in der Ukraine ein?

Heller: Es gibt zwar auf beiden Seiten immer wieder Willensbekundungen, das Schisma der orthodoxen Kirche aufzuheben, aber bisher ist es dabei geblieben. Auf absehbare Zeit dürfte sich daran auch nichts ändern. Die Abspaltung in den 90er Jahren und manche Übergriffe bis hin zur Beschlagnahmung von Kirchengebäuden durch die neu entstandene orthodoxe Kirche hat auf Seiten der UOK zu Verletzungen geführt.

Auch die Tatsache, dass der Sprecher der OKU, Erzbischof Evstratiy, sich den Forderungen der Oppositionsparteien nach einem Verbot der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche angeschlossen hat, hat den Graben zwischen beiden Seiten vertieft. Daher stellt die UOK ihrerseits Bedingungen, unter denen eine Wiedervereinigung nur möglich wäre. Es wird sicher schwer werden, diese Verletzungen wieder zu heilen.

IDEA: Wie ist die Absetzung des bisherigen Außenamtschefs der Russischen-Orthodoxen Kirche, Metropolit Hilarion, aus Ihrer Sicht zu bewerten?

Heller: Das ist im Moment noch unklar. Es gibt verschiedene Spekulationen, und vermutlich gibt es mehrere Gründe. Ihm wird offenbar vorgeworfen, nicht rechtzeitig eingegriffen zu haben, um 2018 die Bildung der neuen Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) zu verhindern.

Außerdem hat er sich kurz vor Beginn des Krieges öffentlich deutlich gegen den Einsatz militärischer Gewalt ausgesprochen und sich in einem kürzlichen Interview – anders als Patriarch Kyrill – sehr vorsichtig zum Krieg positioniert. Schließlich hat er sich auf der orthodoxen Vorkonferenz zur Vollversammlung des ÖRK in Zypern offenbar sehr versöhnlich gegenüber den anderen Orthodoxen verhalten. Dies alles scheint Patriarch Kyrill nicht gefallen zu haben, und es könnte auch sein, dass Präsident Putin hinter der Absetzung steckt.

IDEA: Sind die orthodoxen Kirchen in mehrheitlich orthodoxen Ländern generell stärker mit dem Staat verwoben als andere Konfessionen?

Heller: Die orthodoxen Kirchen sind vielfach noch von den Traditionen des Byzantinischen (Oströmischen) Reiches im Mittelalter geprägt. Damals habe es laut dieser Lesart eine „Sinfonie“ aus Staat und Kirche gegeben. Der byzantinische Kaiser und der Patriarch von Konstantinopel arbeiteten eng zusammen. Eine solche Symbiose sehen wir heute auch wieder in Russland. Das lässt sich aus der russischen Geschichte heraus erklären.

Die ROK war zu Sowjetzeiten starker Verfolgung ausgesetzt. Nach dem Ende des Kalten Kriegs ergab sich dann die Möglichkeit, innerhalb der Russischen Föderation wieder gesellschaftlichen Einfluss und Ansehen zu erlangen. Da gleichzeitig der Staat entdeckte, dass die orthodoxe Kirche sich gut dafür eignet, eine spezifisch russische Identität aufzubauen, konnten beide voneinander sehr gut profitieren und entwickelten ein enges Verhältnis zueinander.

Dass der Moskauer Patriarch den Krieg gegen die Ukraine gutheißt, wird vorausgesetzt. Doch auch wenn Kyrill sicher unter Druck seitens der Regierung steht, gehen viele Beobachter davon aus, dass er von dem überzeugt ist, was er sagt. Dazu muss man wissen, dass er sich während der Corona-Krise aus Furcht vor einer Ansteckung sehr stark isoliert hat. Insofern verfügt er mutmaßlich kaum über unabhängige Quellen, aus denen er sich über das Weltgeschehen informiert.

IDEA: Vielen Dank für das Gespräch!

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