Interview
Ukraine: Menschen sollten nicht in ihrem Hass vergehen
24.02.2023
Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine ist auch in den Kirchengemeinden nichts mehr wie vorher. Der evangelisch-lutherische Pfarrer Alexander Gross, der vier Gemeinden im schwer umkämpften Süden des Landes betreut, hat IDEA erzählt, was der russische Angriff mit seiner Arbeit und den Christen im Land gemacht hat.
IDEA: Herr Pfarrer Gross, wie sieht der Alltag in Ihrer Gemeinde nach einem Kriegsjahr aus?
Gross: Aufgrund des großen Pfarrermangels diene ich als Pastor in vier Gemeinden, davon liegen drei in der Region Odessa und eine im befreiten Gebiet in der Region Cherson. Eine große Zahl von Kirchenmitgliedern sind im Laufe der letzten zwölf Monate geflohen. Sie werden wahrscheinlich auch nicht mehr zurückkehren. Einige Gemeinden sind um 70 Prozent geschrumpft. Das hatte natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Zahl der Freiwilligen und die aktiven ehrenamtlichen Dienste, die diese Gemeinden sonst angeboten haben.
Die Gemeinde in Zmeivka (Region Cherson) steht an vorderster Front. Ich kann dort nicht hingehen, weil das Militär keine Fremden in die Region lässt. Es gibt viele Minen und regelmäßigen Beschuss. Vor ein paar Tagen hat eine Explosion alle Fenster im Pfarrhaus zerstört. Im Nachbarhaus ist die ganze Familie gestorben. Die Kirche ist noch ganz, und die Menschen versammeln sich in kleinen Gruppen zum Gottesdienst. In Odessa nahmen Gemeinden aktiv Flüchtlinge auf oder leisten weiterhin regelmäßig soziale Hilfe für Arme, Migranten und Kinder aus prekären Verhältnissen.
IDEA: Gibt es angesichts des Krieges ein neues Interesse am christlichen Glauben in der Bevölkerung?
Gross: Ja, das gibt es. Wir engagieren uns sehr aktiv in der Seelsorge der Bevölkerung. Bereits im März 2022 wurden zweimal wöchentlich Gottesdienste abgehalten. Die Hauptaufgabe war der Kampf gegen das Gefühl des Hasses, das natürlich mit Bombenanschlägen, Luftangriffen und Nachrichten entstand. Ich glaube, wir haben es geschafft, Menschen zu retten, dass sie nicht im Hass vergehen. Bereits im Mai letzten Jahres haben wir mit der Reparatur und dem Bau von Spielplätzen begonnen.
Die positiven Impulse aus der Kirche haben die Angst und Ungewissheit über die Zukunft überlagert. Die Gemeinden in der Region Odessa haben anfangs eine beträchtliche Anzahl von Mitgliedern verloren, aber im Laufe des Jahres sind sie wieder um 20 bis 30 Prozent gewachsen. In all unseren Sozialämtern gibt es Briefe mit einer kurzen Predigt. Uns ist es wichtig, dass die Menschen eine Beziehung zu Gott haben und grundsätzlich in die Kirche gehen.
IDEA: Wie beurteilen Sie die Lieferung europäischer Waffen an die Ukraine?
Gross: Es ist schwierig, eine Bewertung abzugeben, ohne ein Experte auf diesem Gebiet zu sein. Ich bin Pastor, kein Soldat. Aber als Einwohner spüre ich den Mangel an Möglichkeiten, die Ukraine zu schützen. Die Artillerie erscheint erst dann, wenn erheblicher Schaden angerichtet wurde. Luftverteidigung wird eingerichtet, wenn das Energiesystem bereits zerstört wurde. Alles kommt mit erheblicher Verzögerung und kostet viele Menschenleben und Leid, auch in der Zivilbevölkerung.
Ich würde gerne glauben, dass die Forderungen der Ukraine in Zukunft zumindest rechtzeitig erhört werden. Ich verstehe die Schwierigkeiten der Regierungen der Länder, die die Ukraine unterstützen. Aber der Schleier der Angst vor Russland gleitet langsam weg. Viele Länder haben inzwischen große und mutige Schritte getan.
IDEA: Haben Sie noch Hoffnung, dass es eines Tages besser wird?
Gross: Ohne Zweifel. Ich gehöre zu denen, die nicht an die Möglichkeit einer Eskalation und einer Ausweitung des Konflikts auf einen ausgewachsenen Krieg glauben. Erstens glaube ich nicht an die Macht und die Fähigkeiten der russischen Armee – weil ich ihre Propaganda erkenne und um die Macht ihrer Korruption weiß. Zweitens hatte ich nie Zweifel an der Fähigkeit und Motivation der Ukrainer, ihre Rechte auf Freiheit und ihr Land zu verteidigen.
Aber ich habe die Würde unserer Feinde überschätzt. Sie sind schlimmer, als ich dachte. Wie blind fallen sie weiter und sterben in einer großen Grube namens „Krieg“. Ihre mangelnde Bereitschaft, für die relative Freiheit zu protestieren, die in Russland doch noch ein bisschen vorhanden ist, erstaunt mich einfach. Aber mit der Zeit wird sich alles an seinen Platz fügen, und der Krieg wird aufhören. Auch, wenn niemand derzeit wagt zu sagen, wann das sein wird.
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