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Pädophilie und Kentler: Kirchenleitung bittet um Entschuldigung

26.05.2021

Der Sexualwissenschaftler Helmut Kentler. Foto: ullstein bild
Der Sexualwissenschaftler Helmut Kentler. Foto: ullstein bild

München (IDEA) – Der Landeskirchenrat und der Landessynodalausschuss der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) haben für ihren kritiklosen Umgang mit dem Sexualwissenschaftler Helmut Kentler (1928–2008) um Entschuldigung gebeten. Der auch in kirchlichen Kreisen lange Zeit angesehene Psychologe und Professor für Sozialpädagogik (Hannover) hatte Pflegekinder an pädophile Männer vermittelt.

Von 1962 bis 1965 war er pädagogischer Referent des Studienzentrums für evangelische Jugendarbeit im bayerischen Josefstal (Schliersee). Bis 1999 war er dort jährlich für drei Wochen an Familienfreizeiten beteiligt und wurde bis 2001 zu Symposien und Fachgespräche eingeladen.

Nun äußerten sich der Landeskirchenrat und der Synodalausschuss in einer Stellungnahme bestürzt über das fehlende Problembewusstsein: „Selbst als Kentlers Verteidigung der Pädophilie öffentlich kritisiert wurde, haben wir als evangelische Kirche versäumt, uns öffentlich von ihm und seiner Haltung zu distanzieren – wir haben es auch nicht getan, als 2010 im Rahmen einer Eingabe an die Landessynode die ausdrückliche Möglichkeit dazu bestanden hätte. Dafür bitten wir heute um Entschuldigung.“

Zum Hintergrund: Diese Eingabe an die bayerische Landessynode hatte 2010 die theologisch konservative Kirchliche Sammlung um Bibel und Bekenntnis in Bayern (KSBB) formuliert. Darin beantragte sie die Löschung eines unkritischen Nachrufs auf den Internetseiten von Josefstal und der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend (aej) und rief zur Distanzierung von Kentler auf. In einer Stellungnahme des Landeskirchenrates – sie liegt der Evangelischen Nachrichtenagentur IDEA vor – hieß es daraufhin, dass es sich bei den Organisationen um selbstständige Einrichtungen handele.

Die KSBB wurde von dem Landeskirchenrat gebeten, ihr Anliegen im direkten Gespräch mit Josefstal und aej vorzubringen. 2011 befasste sich der Landessynodalausschuss mit dem Thema und empfahl Josefstal und dem Synodalausschuss eine Überprüfung und gegebenenfalls eine Bereinigung des Textes.

Unkritische Aufnahme von Kentlers Theorien soll aufgearbeitet werden

Landeskirchenrat und Landessynodalausschuss unterstützen nun in ihrer Stellungnahme die Aufarbeitung des Verhältnisses der bayerischen Landeskirche zu Kentler. Betroffene werden gebeten, sich an die entsprechende Ansprechstelle (ansprechstelleSG@elkb.de, 089 5595 335) zu wenden. Zudem werde man „aktiv die Aufarbeitung der unkritischen Aufnahme von Kentlers Theorien und Haltungen zu Sexualität und Jugendarbeit im Bereich der ELKB und der EKD und den Gründen, weshalb dem nicht früher und lauter widersprochen wurde, anstoßen und unterstützen“.

Studienzentrum: Tragen eine Mitschuld an dem Leid junger Menschen

Das Studienzentrums für evangelische Jugendarbeit in Josefstal teilte in einer Stellungnahme mit, dass es Mitschuld an dem Leid trage, das Kentler über viele junge Menschen gebracht habe. Das Zentrum sei Teil des Milieus gewesen, das Kentler zu einem anerkannten Wissenschaftler und seine Ideen hoffähig gemacht habe: „Das Studienzentrum hätte seine Aussagen in publizierten Werken kennen und ihnen entschieden entgegentreten müssen.“ 2011 hätte sich die Gelegenheit geboten, aber da habe man sich zwar intern, aber nicht in aller Deutlichkeit öffentlich distanziert.

Kentler wirkte an Kirchentagen mit und sprach oft an verschiedenen Akademien

Kentler war ferner regelmäßig Mitwirkender auf Deutschen Evangelischen Kirchentagen, etwa 1989 in Berlin, 1987 in Frankfurt am Main, 1985 in Düsseldorf und 1979 in Nürnberg. Er sprach und arbeitete auch an verschiedenen Evangelischen Akademien, darunter Bad Boll, Tutzing und Arnoldshain (heute: Evangelische Akademie Frankfurt). In Arnoldshain war er von 1960 bis 1962 Jugendbildungsreferent.

Kentler hatte in seiner Funktion als Leiter des Pädagogischen Zentrums Berlin im Rahmen des sogenannten „Kentler-Experiments“ Pflegekinder an pädophile Männer vermittelt. Er wollte prüfen, ob die Jugendlichen durch diese Männer sozial gefestigt würden. Seit Ende der 60er Jahre bis mindestens 2003 hatten somit Berliner Jugendämter auf Betreiben von Kentler Kinder wissentlich an vorbestrafte pädophile Pflegeväter vermittelt. Dabei war es zu sexuellem Kindesmissbrauch gekommen.

Laut einer Studie der Universität Hildesheim aus dem Jahr 2020 gab es ein weitreichendes Netzwerk „quer durch wissenschaftliche pädagogische Einrichtungen und die Senatsverwaltung bis hinein in einzelne Berliner Bezirksjugendämter, in dem pädophile Positionen akzeptiert, gestützt und verteidigt wurden“. Pflegekinder seien vom Land Berlin aus auch an Pflegestellen oder Einrichtungen in Westdeutschland vermittelt worden und dort ebenfalls verschiedenen Formen der Gewalt ausgeliefert gewesen.

Im April 2021 einigte sich das Land Berlin mit zwei Opfern sexualisierter Gewalt auf „substanzielle finanzielle Leistungen“. Wie es damals in einer Pressemitteilung hieß, sollte damit das erlittene Leid anerkannt werden, das den beiden Betroffenen zugestoßen sei. Bereits 1989 hatte Kentler in seinem Buch „Leihväter – Kinder brauchen Väter“ geschrieben, dass er Jugendliche bei Männern unterbrachte, die wegen sexuellen Missbrauchs an Jungen vorbestraft waren.

Lesen Sie zu dem Thema auch den IDEA-Beitrag von Andreas Späth aus dem Jahr 2020. Er ist Vorsitzender des Kirchlichen Sammlung um Bibel und Bekenntnis in Bayern. Späth hat 2010 gemeinsam mit dem früheren mecklenburgischen Oberkirchenratspräsidenten Prof. Menno Aden das Buch „Die missbrauchte Republik“ herausgegeben.

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