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Bericht

Merkel: „Die Worte des Propheten Jeremia sprechen mir aus der Seele“

26.11.2024

Angela Merkel (CDU) legt 2018 ihren Amtseid als Bundeskanzlerin ab und verwendet die Worte „So wahr mir Gott helfe“. Foto: picture alliance / Gregor Fischer/dpa
Angela Merkel (CDU) legt 2018 ihren Amtseid als Bundeskanzlerin ab und verwendet die Worte „So wahr mir Gott helfe“. Foto: picture alliance / Gregor Fischer/dpa

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Heute erscheint im Verlag Kiepenheuer & Witsch „Freiheit“, die Autobiografie von Angela Merkel. Die CDU-Politikerin war von 2005 bis 2021 Bundeskanzlerin. IDEA stellt Kernaussagen über ihre Kindheit im Pfarrhaus, die Bedeutung von Weihnachten und das Kirchenlied „Großer Gott, wir loben dich“ vor.

Mein Vater, „der rote Kasner“

Dass meine Eltern, insbesondere mein Vater, uns Pfarrerskindern erlaubt hatten, Mitglieder der Pioniere und der FDJ zu werden, war im Vergleich zu anderen Pfarrhäusern eine Ausnahme. Manchmal brachte diese Situation mich auch in einen Zwiespalt, wenn ich erlebte, dass Gleichaltrige allein deshalb nicht auf die Erweiterte Oberschule (EOS) wechseln durften, weil sie keine FDJ-Mitglieder waren.

Mein Vater war im politischen Spektrum ohnehin eher links zu verorten. Er befürwortete die Befreiungstheologie in Lateinamerika und lehnte die Kirchensteuer in der Bundesrepublik ab. Denn er war der Meinung, dass sich Pfarrer in ihrer eigenen Gemeinde ihren Verdienst selbst erarbeiten sollten. Seine Einstellungen führten schon zu DDR-Zeiten dazu, dass er „der rote Kasner“ genannt wurde.

Ich hielt seine Auffassungen nicht für besonders praxistauglich und schlüssig, da ich mit Blick auf unsere eigenen Lebensumstände zu dem Ergebnis gekommen war, dass wir uns bei Umsetzung der Politik, für die mein Vater theoretisch argumentierte, vieles nicht hätten leisten können. Wenn ich dies meinem Vater sagte, stieß ich allerdings auf taube Ohren.

Heiligabend

An Heiligabend musste mein Vater zwei oder drei Gottesdienste in den Dörfern um Templin herum halten und kam oft erst nach achtzehn Uhr und dann sehr verfroren aus den kalten Dorfkirchen nach Hause. Als wir klein waren, wurden wir Kinder zuvor zum Mittagsschlaf verdonnert, weil es abends spät werden sollte.

Als ich älter wurde, begleitete ich meinen Vater zu seinen Gottesdiensten. Natürlich kam meine Berliner Großmutter zu Besuch, aber zugleich sollte gerade an diesem besonderen Abend auch an die gedacht werden, die allein waren.

Meine Eltern vermittelten uns Kindern von klein auf, dass der wesentliche Sinn von Weihnachten darin lag, an Menschen zu denken, die es nicht so gut hatten wie wir, die einsam und verlassen waren. So wurde jedes Jahr an Heiligabend ein Mitbewohner unseres Hauses zu uns eingeladen, der allein lebte und selten Unterhaltung hatte.

Beim Abendessen, das aus meiner kindlichen Perspektive wegen der Gottesdienste meines Vaters sowieso schon spät genug begann, durfte unser Gast endlich einmal ausführlich plaudern, meine Eltern ermunterten ihn sogar noch dazu.

Wir Kinder aber saßen auf heißen Kohlen, galt doch unsere gesamte Aufmerksamkeit der sehnlichst erwarteten Bescherung, aber es verbot sich, etwas zu sagen. So wurde es oft zwanzig Uhr oder noch später, bevor wir endlich das Weihnachtszimmer betreten durften.

Konflikte mit dem Staat

Ich liebte es, in andere Pfarrhäuser im Kirchenkreis mitzufahren. Nach dem Kaffeetrinken wurden wir Kinder häufig weggeschickt. Wenn es hieß, ihr könnt spielen gehen, war eigentlich gemeint, wir sollten spielen gehen. Ich versuchte des Öfteren, bei den Erwachsenen zu bleiben, und entwickelte Strategien, wie ich mich in eine Ecke verdrücken oder hinter einem Vorhang unerkannt dabeibleiben konnte. Ich wollte unbedingt zuhören, was gesprochen wurde.

Die Gespräche waren meistens hochpolitisch. Das interessierte mich brennend – und mehr, als wenn über theologische Fragen oder Christenlehre und Gottesdienste gesprochen wurde. Manchmal ging es um andere Pfarrer, die in einen Konflikt mit dem Staat geraten waren oder Schwierigkeiten mit der Staatssicherheit hatten, es wurde auch über die Probleme der Kinder mit der Schule geredet. Immer war klar, dass über solche Gespräche und Begegnungen niemals mit Dritten gesprochen werden durfte. Wir Kinder wussten, dass wir zu schweigen hatten.

Angela Merkel mit Beate Baumann, „Freiheit. Erinnerungen 1954 – 2021“, 736 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, 42 Euro. Foto: picture alliance / ROPI

Gottesdienste in Ost-Berlin

Seitdem ich in der Schönhauser Allee wohnte, gehörte ich zur Gemeinde der Gethsemanekirche… Von Zeit zu Zeit besuchte ich auch Veranstaltungen wie zum Beispiel Bluesmessen mit Rainer Eppelmann, der Pfarrer an der Samariterkirche im Friedrichshain war und den ich entfernt aus dem Pastoralkolleg meines Vaters kannte. In seinen Messen standen vor allem Friedens- und Umweltfragen im Mittelpunkt.

Hier war ich allerdings in der Minderheit, weil ich persönlich dachte, dass die Aufrüstung der Sowjetunion mit SS-20-Raketen einer Antwort des Westens bedurft hatte, und weil ich später auch das Reaktorunglück von Tschernobyl nicht für ein systemisches Versagen der Kernkraft hielt, sondern allein für sowjetische Schlamperei. Wenn ich die offenen Veranstaltungen dennoch besuchte, dann, weil ich glaubte, dass staatskritische Initiativen in jedem Falle unterstützt werden sollten.

Der Eid der Bundeskanzlerin

Dem Eid hatte ich die Worte „So wahr mir Gott helfe“ hinzugefügt. Er konnte auch ohne die religiöse Beteuerung geleistet werden, mir jedoch war sie wichtig. Ich glaube daran, dass es Gott gibt, auch wenn ich ihn oft nicht direkt erfassen oder erfühlen kann.

Da ich weiß, dass ich nicht vollkommen bin und Fehler mache, hat der Glaube mir das Leben und auch meinen Auftrag leichter gemacht, mit der mir zeitweise gegebenen Macht Verantwortung für meine Mitmenschen und die Schöpfung zu übernehmen, ohne mich zu überhöhen oder umgekehrt unter Hinweis auf meine beschränkten Möglichkeiten zu schnell klein beizugeben.

Mir sprachen und sprechen die Worte des Propheten Jeremia immer aus der Seele „Suchet der Stadt Bestes […], denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.“ „So wahr mir Gott helfe“ öffentlich ausgesprochen zu haben, half mir, mich auch bei schweren Entscheidungen behütet zu fühlen.“

„Wir schaffen das“

Wir schaffen das – kein Satz ist mir in meiner gesamten politischen Laufbahn so sehr um die Ohren gehauen worden wie dieser. Keiner hat so polarisiert. Für mich jedoch war dieser Satz banal. Er war Ausdruck einer Haltung. Man kann sie Gottvertrauen nennen, Zuversicht oder einfach die Entschlossenheit, Probleme zu lösen, mit Rückschlägen fertigzuwerden, Tiefpunkte zu überwinden und Neues zu gestalten.

Großer Zapfenstreich

Das letzte, das stand für mich immer fest, musste ein Kirchenlied sein. Im Wettbewerb mit Luthers Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ fiel meine Wahl auf „Großer Gott, wir loben dich“, ein ursprünglich katholisches, inzwischen ökumenisches Kirchenlied, das die Demut vor Gottes Schöpfung wunderbar ausdrückte.

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