Frei-/Kirchen
Kirche teils „ohne Relevanz für die Bevölkerung“
26.09.2022
Leipzig (IDEA) – Im vergangenen Jahr ist der Anteil von Mitgliedern der Großkirchen in Deutschland erstmals unter die Marke von 50 Prozent der Bevölkerung gefallen. „Darüber traurig zu sein, ist sicherlich kein Fehler“, sagte der Vorsitzende des Verbandes evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland, Andreas Kahnt (Westerstede/Oldenburg). Er sprach vor der Mitgliederversammlung des Verbandes am 26. September in Leipzig.
Ihm zufolge dürfte es den „den Sog nach unten beschleunigen“, eine Kirche in der Minderheit zu beklagen. Pfarrer hätten kein anderes Evangelium weiterzusagen als in einer Mehrheitskirche. Auch von einer Minderheit könnten wesentliche Impulse in die Gesellschaft ausgehen. Allerdings sei noch nicht erwiesen, „ob die missionarische Kraft von Christinnen und Christen und Gemeinden ausreicht, das Evangelium in unserem Land lebendig zu halten“. Je schwerer die Kirchen den Pfarrern die Arbeitsbedingungen gestalten und je weniger junge Menschen sich deshalb für den Pfarrberuf begeistern lassen, desto weniger Strahlkraft werde von ihnen ausgehen.
Kahnt zufolge wird sich für eine Kirche in der Minderheit das Verhältnis von Kirche und Staat verändern. So wisse niemand, wie lange die Theologie ihren Stellenwert an den Universitäten bewahren könne. Zudem werde die Abschaffung der Staatsleistungen an die Kirchen diskutiert. Diakonie und Caritas würden als „Anbieter unter vielen“ wahrgenommen. Die Kirche sei in einigen Teilen des Landes „ohne Relevanz für die Bevölkerung“. Pfarrer müssten in dieser Situation ihr berufliches Selbstverständnis schärfen. Das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten und Stärken dürfe nicht das Vertrauen in Gott unterminieren.
Kahnt riet dazu, die Situation positiv zu sehen: „Knapp 50 Prozent der Bevölkerung ist Mitglied einer der großen Kirchen? Das ist ja richtig viel!“
Sexualisierte Gewalt: „Ein einziges Versagen von Kirche und Diakonie“
Zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Kirche erklärte Kahnt, auch Pfarrer hätten sich schuldig gemacht: „Das jahrzehntelange Schweigen von Kirche und Diakonie ist ein einziges Versagen.“ Auch der Verband evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer habe sich dem Thema „wider besseres Wissen nie gestellt, allenfalls bei der Bewertung dienstrechtlicher Konsequenzen“. Betroffene müssten mitunter lange kämpfen, dass ihr Leid anerkannt wird. Die Erinnerung an erlittene Gewalt bleibe lebenslang. Das Eingeständnis von Schuld seitens der Täter könne helfen, dass Betroffene ins Recht gesetzt werden.
Fälle sexualisierter Gewalt gehörten vor Gericht und müssten disziplinarisch verfolgt werden. Wichtig sei es zudem, Sexualität in der Ausbildung und der Supervision zu thematisieren und für sexuelle Integrität sensibel zu machen.
Ukraine-Krieg: „Der Pazifismus darf eine Ausnahme machen“
Ferner äußerte sich Kahnt zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Viele Pfarrer hätten Bedenken gegenüber dem Krieg als solchem sowie den Reaktionen der westlichen Staatengemeinschaft. Viele ältere Pfarrer seien „Kinder“ der Friedensbewegung. Nicht wenige seien aufgrund des bedrohten Friedens im Kalten Krieg zur Theologie gekommen. Nach Kahnts Einschätzung hat „Kriegsrhetorik“ wieder Konjunktur. Es komme jedoch darauf an, „die Lage zumindest verbal zu entspannen“. Dass in einem Krieg Menschen sterben, müsse in Predigt, Unterricht und Seelsorge benannt werden. Nötig sei ein „klares Bekenntnis zu Frieden und Versöhnung zwischen Menschen und Völkern“.
Allerdings sei es „zynisch“, der Ukraine Gewaltfreiheit abzuverlangen. Das Land auch mit Waffen zu unterstützen, führe in das Dilemma, „einerseits alles für den Frieden tun zu wollen, es aber ohne Waffen nicht zu können“. Nothilfe sei jedoch keine „präventive Aufrüstung, um anderen zu drohen, sondern Unterstützung zu rechtserhaltender Gewalt in einer konkreten Ausnahmesituation.“ Kahnt: „In einer solchen Situation darf der Pazifismus eine Ausnahme machen, ohne sich selbst zu verleugnen. Nichts zu tun, wäre eine Haltung, die den Pazifismus zu einer Sache privilegierter Menschen machte, die das Glück haben, in einem Land zu leben, in dem seit über 70 Jahren Rechtsstaatlichkeit und die Abwesenheit von Krieg den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen.“
Der Verband evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland vertritt etwa 20.000 Geistliche.
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