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Reportage

Hochwasser im Kreis Ahrweiler: Eine Helferin berichtet

04.08.2021

Mit dieser Helfergruppe waren Anna Brattig (vorne, 3. v. l.) und Jana Hoffmann (vorne, 1. v.l.) unterwegs. Foto: Anna Brattig
Mit dieser Helfergruppe waren Anna Brattig (vorne, 3. v. l.) und Jana Hoffmann (vorne, 1. v.l.) unterwegs. Foto: Anna Brattig

In den von der Flutkatastrophe betroffenen Regionen sind auch viele Christen aktiv, um den Menschen zu helfen. Vom 26. bis 28. Juli packten beispielsweise in Ahrweiler bei Bonn täglich 300 junge Freiwillige vor Ort mit an. Aufgerufen zu dem Einsatz hatten die Macher des YouTube-Kanals „Real Life Guys“ in Zusammenarbeit mit christlichen Hilfswerken. Auch Anna Brattig ist dem Aufruf gefolgt. Die 21-jährige Studentin aus Wetzlar berichtet, wie sie die Tage erlebt hat.

Ehrlich gesagt hatte ich von Städten wie Altenburg oder Ahrweiler bis zum 14. Juli 2021 noch nie etwas gehört. Aber dann zerstörte an dem Tag eine riesige Flutwelle über Nacht im Kreis Ahrweiler viele Häuser, Existenzen und Familien.

Dieses Ereignis beschäftigte ganz Deutschland. Betroffenheit, Entsetzen, Mitgefühl. Man kann es nicht begreifen, was es bedeutet, alles, wirklich ALLES zu verlieren. Man denkt auch nicht, dass das in Deutschland ist. Gerade mal knapp 100 Kilometer von meinem Wohnort Wetzlar entfernt. Aus den Medien hörte ich von der vielen Hilfsbereitschaft und mir ging es ähnlich. Für mich war klar, ich möchte helfen. Ich stieß auf ein Video der christlichen YouTuber „Real Life Guys“. Sie riefen zu einer Helferaktion auf, zusammen mit den Organisationen To All Nations, Samaritan‘s Purse und Heidelberg.hilft.

Sofort meldete ich mich an und einen Tag später saß ich mit Campingausrüstung, Schaufel und Eimer im Auto und fuhr nach Andernach. Dort sollten alle Helfer auf einem Sportplatz campen. In Andernach angekommen, bekam ich ein T-Shirt für die kommenden Tage. Wir verstanden uns alle auf Anhieb.

Ein „Garten“. Foto: Anna Brattig

Tag 1 (26. Juli): Was mich schockierte

Wir wussten alle nicht, was uns erwarten würde, als wir aufstanden. Uns wurde der Tagesablauf erklärt: „Und noch etwas. Ihr seid zum Helfen da, aber wenn die Leute Redebedarf haben, dann hört ihnen zu. Auch das wird Teil eurer Aufgaben sein. Diese Menschen haben viel bis alles verloren.“

Wir fuhren dann mit unserem Gruppenleiter los ins Krisengebiet. Unser Team war für Bad Neuenahr-Ahrweiler eingeteilt. Als unser Bus in das Dorf einfuhr, konnten wir unseren Augen nicht trauen. Staubwolken empfingen uns. Mit Schaufel und Eimer in der Hand liefen wir los. Im regelmäßigen Abstand fuhren Feuerwehr, Polizei und Krankenwagen vorbei. Auch Traktoren, Bagger und große Lastfahrzeuge mit einem Anhänger voller Erde gemischt mit Gerümpel. Auf den Bürgersteigen türmten sich Berge von Erde, Sperrmüll und nicht mehr identifizierbaren Dingen. Es sah so aus, als hätte ein Hurrikan gewütet.

Wir kamen an eine Brücke, die über die Ahr führte. Es war die einzige Brücke, die in dem Dorf noch über den Fluss führte. Alle anderen wurden von der Flut vernichtet. Aber auch diese Brücke war getroffen: Das Geländer war verbogen und zum Teil abgerissen und wurde mit einer provisorischen Holzkonstruktion gesichert. So war ein geordneter Verkehr möglich. Nach dieser Brücke liefen wir an einer Schule vorbei. Die Fensterscheiben waren kaputt und davor lagen Berge von Müll. Was passiert mit den Schülern nach den Sommerferien, fragte ich mich. Wahrscheinlich gibt es darauf auch noch keine Antwort. Das alles hier hatte nicht nur materiellen, sondern auch emotionalen und psychischen Schaden hinterlassen. Es wunderte mich nicht mehr, dass vor allem ältere Menschen diese Situation mit dem Krieg verglichen. Eine ältere Frau kam uns entgegen. Ihr Anblick schockierte mich. Sie war dreckig, ging langsam und hatte einen leeren Blick. Der Schock stand ihr immer noch ins Gesicht geschrieben. So einen hoffnungslosen, traurigen und entsetzten Blick hatte ich noch nie gesehen.

Zuerst sollten wir einen Garten und einen Lichtschacht vom Schlamm befreien. Wie wurden herzlich von einem dankbaren Ehepaar empfangen: „Ohne die vielen Helfer hätten wir es nicht geschafft.“ Das steigende Wasser war die eine Sache, erzählen sie. „Aber das kam ja nachts. Manche sind im Schlaf ertrunken. Bei uns war es die Nachbarin, die um 23.30 Uhr kam und meinte, wenn wir noch unser Auto retten wollen, sollten wir es jetzt umparken. Wir haben das Auto vier Mal umgeparkt. Dann kamen wir nicht mehr ins Haus rein … Aber uns hat es noch gut getroffen. Wir haben unser Haus nicht verloren.“ Diese Worte beschäftigten uns lange. Sie verloren fast alles, waren aber nicht hoffnungslos. Das Ehepaar bot uns an, Brote für uns zu schmieren. Was für eine Gastfreundschaft.

Draußen liefen Seelsorger durch die Straßen und verteilten Kekse. Auch die Feuerwehr ging von Haus zu Haus. Der Zusammenhalt war enorm. Ein Haus weiter sah ich eine andere Gruppe von uns, die in einer Kette einer mit Schlamm aus dem Fenster bis auf die Straße reichte. Auch mehrere Polizisten halfen mit.

Als wir am nächsten Haus ankamen, wurde dort schon tatkräftig gearbeitet. Die Bewohner der Wohnung darüber halfen mit, ebenso einige Beamte. An den Außenwänden konnte man sehen, wie hoch das Wasser gestanden hatte. In der Wohnung war nichts mehr, nur noch Staub. Wir bildeten eine Kette, denn in zwei Räumen musste der Estrichboden, gedämmt mit Glaswolle, rausgestemmt und rausgebracht werden. Außerdem musste die Tapete von den Wänden. Um Kräfte zu sparen, wechselten wir uns ab. Den Betroffenen aus der Wohnung darüber sah man die letzten kräftezehrenden Tage an. Trotzdem standen sie mit in der Kette und stemmten den Boden raus. Auf dem Rückweg zum Bus gingen wir noch einmal an dem Haus vorbei, wo wir am Vormittag waren. Die Betroffenen erkannten uns an unseren auffälligen orangenen T-Shirts wieder, winkten uns noch einmal. Die Dankbarkeit war so groß. Mich hat das sehr berührt. Obwohl die Menschen alles verloren haben, wollten sie alles Verbliebene mit uns teilen. Einfach, weil sie glücklich waren, Hilfe zu bekommen. Sie sagten, wir waren ihre „orangenen Engel“.

Auf dem Rückweg schliefen die meisten im Bus. Im Camp angekommen, gaben wir unsere dreckigen T-Shirts ab, Anwohner im Dorf hatten sich bereit erklärt, alle T-Shirts zu waschen. Wieder ein Zeichen für die Hilfsbereitschaft. Nach dem Duschen und Abendessen waren wir zwar alle müde und komplett fertig, aber hatten einfach Lust auf diese tolle Gemeinschaft im Camp. Es war einfach nur schön und berührend wie viel Kraft in dieser Gemeinschaft steckt. Man hat wirklich gespürt, wie nah Gott uns ist.

Das Camp der Helfer auf einem Sportplatz in Andernach. Foto: Anna Brattig

Tag 2 (27. Juli): Überall liegen Schutt und Müll

Mit wenig Schlaf starteten wir in den Tag. Kurz nach dem Aussteigen in Ahrweiler wurden wir von einem Fliesenleger abgefangen. Wir waren bereits eine Gruppe von fünf, die könne er gebrauchen. Also sind wir bei ihm eingestiegen. Zwei Dörfer weiter, in Lohrsdorf hatte der Fliesenleger ein Lager. Auf dem Weg dorthin fuhren wir direkt an der Ahr entlang. Das Chaos war so groß. Eine große Brücke wurde von den Fluten vollständig zerstört, nur die Pfeiler standen noch, von der Umgehungsstraße war eine Seite der Fahrbahn komplett abgebrochen.

Unsere Aufgabe an dem Lager war es, den schon getrockneten Schlamm auf dem Hof zu entfernen, damit er bei weiteren Regenfällen die Abflüsse nicht wieder verstopft. Da der Schlamm trocken war, funktionierte es wirklich gut. Wir brauchten den ganzen Vormittag, aber wurden wieder wunderbar versorgt. Die Angestellte einer Bäckerei kam vorbei und brachte uns belegte Brötchen, Kuchen und Kaffee. Während einer Pause unterhielten wir uns kurz mit den Mitarbeitern. Sie erzählten uns, dass man von den Fliesen keine mehr verwenden könnte. Der ganze hintere Teil des Hofes lag auch noch voll mit Schutt, den das Wasser mitgebracht hatte.

Vor allem dem Chef, der uns abgeholt hatte, merkte man den Stress an. Er brauchte dringend eine Pause. Das Gelände, auf dem wir halfen, ist nicht seine einzige Halle. Er hat fast alles, was zur Firma gehört, verloren. Einer seiner Mitarbeiter erzählte uns später, dass in Düsseldorf zwei Leichen geborgen wurden. Beide konnten identifiziert werden, sie kamen aus Altenahr. Über 100 Kilometer seien sie weggespült worden.

Wieder am Marktplatz angekommen, trafen wir andere aus dem Camp und teilten unsere Erfahrungen des Tages. Es ist gut, reden zu können. An diesem Abend war im Camp Samuel Koch zu Besuch und es gab eine Gebetsrunde, die wirklich emotional aber auch sehr schön war. Später am Abend gaben die O’Bros (ein Rap-Duo, die das Evangelium in ihrer Musik verkünden) ein Konzert. Wir dankten Gott mit der Musik, wir feierten Gott und spürten ihn ganz nah bei uns.

Eine „normale“ Straße in Altenahr, rechts wird ein Haus abgerissen. Foto: Anna Brattig

Tag 3 (28. Juli): Wie ausgestorben

Heute fuhr uns der Bus nach Altenburg/Altenahr. Wir stiegen aus und wurden wie die Tage vorher von einem hohen Berg an Müll empfangen. Neben der Straße verliefen Bahngleise, die aber mit umgestürzten Bäumen verdeckt waren. Unter den Schienen hatte es außerdem die Erde weggerissen. Die Schienen hingen also in der Luft. Die Straßen hier waren noch voller nassem Matsch. Am rechten Straßenrand standen Häuser, die kein Dach mehr hatten. Die nächste Häuserzeile war schon keine mehr, da die Häuser so eingestürzt waren. Einige Häuser waren komplett weggeschwemmt worden. Ein Bagger fing an, eine Wand einzureißen. Es war unvorstellbar. Wie lange wird es dauern, bis das hier alles wieder normal aussieht? Das fragte sich wohl jeder hier. Das einzige Gebäude, das unversehrt geblieben ist, ist eine kleine Kapelle.

Vorne an jedem Haus waren Kreuze und Haken an die Wand gesprüht. Das, was ich hier erst für eine Verschandelung hielt, waren aber Zeichen der Aufräum-Arbeiten. Ein schwarzes Kreuz stand dafür, dass in diesem Haus keine Leichen gefunden wurden. Ein rotes Kreuz und grüner Haken bedeutete, dass ein Baugutachter und ein Statiker das Haus für einsturzsicher geprüft hatten. Es wirkte alles fast wie ausgestorben. Wo sind die ganzen Bewohner, fragte ich mich. Viele sind weggefahren, erfuhr ich später. Zu Notunterkünften, Verwandten oder irgendwo anders hin. Der Anblick war für so viele emotional und psychisch nicht mehr auszuhalten. Anzeichen eines Traumas.

Meine erste Aufgabe war bei einem Steinmetz. Wir räumten aus der Werkstatt einen Schrank aus. Darin waren Öle und Ähnliches verstaut, das zum Teil ausgelaufen und sich mit dem Schlamm vermischt hatte. Noch nie hatte ich so etwas Ekliges gerochen. Aber auch das musste natürlich ausgeräumt werden. Zwei Ärzte liefen vorbei und fragten, ob wir gegen Tetanus geimpft seien. Waren wir nicht. Meine Impfung war vor einem Jahr abgelaufen. Also wurden wir (hygienisch natürlich) inmitten dieser Baustelle geimpft. Spätestens da fühlte man wirklich diesen absoluten Ausnahmezustand der Gegend. Das Haus war bis auf einen Raum leer. In diesem Raum befanden sich gerettete Ordner, Spielzeug, ein Meisterbrief und getrocknete Fotos, die aber alle nicht mehr farblich intakt waren. Das war zu viel für mich, ich musste mich hinsetzen und den Tränen freien Lauf lassen, die ich die ganzen Tage unterdrückt hatte. Ich freute mich für diese Familie, dass sie etwas retten konnte. Aber gleichzeitig war ich traurig für alle anderen Menschen, denen nicht einmal schlammige Fotos geblieben waren.

Als wir dann das letzte Mal in den Bus stiegen und ins Camp zurückfuhren, hatte man Zeit, das Ganze zu rekapitulieren. Einerseits waren es die schrecklichsten Bilder, die ich jemals gesehen habe. Die Zustände, die Zerstörungen. Aber es war andererseits auch eine der schönsten Erfahrungen, die ich mitnehmen konnte. Das Helfen, die Zuversicht und Hoffnung, die man schenken konnte, und für sich selbst die Dankbarkeit: Ich habe ein Dach über dem Kopf, eine Familie, ein Bett, ein Zuhause. Das habe ich noch einmal mehr schätzen gelernt.

Wieder zurück in der Heimatstadt war es wie in einem Loch. Und komischerweise „vermisst“ man diesen zerstörten Ort. Nicht, weil es schön ist, die Zerstörung zu sehen. Sondern weil man sehen kann, wie man mit kleinen und großen Handgriffen Hoffnung schenken kann.

Die Verständigung innerorts: keine Leichen im Haus gefunden (schwarzes Kreuz), nicht einsturzgefährdet und darf betreten werden (rotes Kreuz und grüner Haken). Foto: Anna Brattig

Jeder kann etwas tun: Helfen, spenden, beten

Ich hatte zuerst etwas Respekt, ob ich die Geschichten und Bilder dort gut aushalten kann, aber mir haben die Tage im Camp gutgetan. Die Dankbarkeit und Hilfsbereitschaft haben mich tief berührt und ich habe Gott ganz nah bei mir gespürt. Er hat mich gestärkt, geschützt, hat mir gegeben, was ich brauchte, um diese Tage durchzustehen. Ich habe wundervolle Leute kennen gelernt, mit denen wir schon einen weiteren Einsatz im Flutgebiet planen. Und ich danke den Real Life Guys, den ganzen Camphelfern und vor allem danke ich dem Herrn für die Erfahrungen, die ich machen durfte: „Behandle die Menschen, wie du selbst behandelt werden willst.“ Dieser Bibelvers (Lukas 6,31) begleitete mich die ganze Zeit. Natürlich kann nicht jeder vor Ort helfen, das ist klar. Und auch nicht jedem ist es möglich, zu spenden. Was aber jeder kann, ist beten. Beten für die Menschen dort, für die zerstörten Dörfer und für alle Menschen, die vor Ort helfen. Denn den Segen Gottes habe ich dort gespürt. Diese Hilfsbereitschaft aus ganz Deutschland und sogar dem Ausland, die fast schon familiäre Atmosphäre vor Ort und dass es voran geht, wenn auch langsam. Gott war und ist da.

Der Artikel ist in Zusammenarbeit mit der Studentin Jana Hoffmann (Köln) entstanden, die ebenfalls vor Ort war.

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