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Bericht

„Gott wird ein Kind“

25.12.2022

Das Weihnachtswunder in einer künstlerischen Darstellung. Foto: pixabay.com
Das Weihnachtswunder in einer künstlerischen Darstellung. Foto: pixabay.com

Die Zeitungen beschäftigen sich zum Heiligabend mit der Lage der Kirchen und der Bedeutung des Evangeliums. Eine Weihnachtspresseschau, zusammengestellt von Karsten Huhn

Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Die Krise des europäischen Christentums“

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentiert: „Die Krise des europäischen Christentums findet je länger, desto mehr ihre Entsprechung in individuellen Glaubenskrisen – mit allen Folgen für die Kirchenorganisationen. Die meisten von ihnen sind in unserem ,säkularen Zeitalter‘ nicht nur immer machtloser, sondern auch immer sprachloser.

Der von den Päpsten in gegenreformerischer Absicht propagierte Kampfbegriff ,Neuevangelisierung‘ etwa ist theoretisch hohl und so lange praktisch unübersetzbar, wie die Klerikerkirche religiös-gesellschaftlich Ordnungsvorstellungen propagiert, die mit der befreienden Botschaft Jesu nicht unbedingt zur Deckung zu bringen sind... Was bleibt, gerade hierzulande, sind Millionen, die Tag für Tag als Christen und in christlich geprägten Einrichtungen die Werke der Barmherzigkeit tun.

Was aus der Kirche als gesellschaftlich relevanter Kulturmacht wird, steht in den Sternen, solange vor allem die katholische mit ihrer multiplen Missbrauchs- und Diskriminierungsgeschichte nicht ins Reine kommt. Und inmitten von Dörfern und Städten bleiben Zehntausende Kirchen, so sie nicht der Bereinigung des Immobilienportfolios der Bistümer und Landeskirchen zum Opfer fallen. Sie sind eine stumme Einladung, im Lärm dieses Jahres innezuhalten, in sich zu gehen, in die Stille zu horchen.“

Stern: „Euch ist heute der Heiland geboren“

„Fürchtet euch nicht“, rät der Stern in seiner Titelgeschichte. Die Weihnachtsgeschichte so aktuell wie nie: „Sie saßen zusammen, als ob nichts passiert wäre. Plötzlich tauchte aus dem Nichts diese Gestalt auf, dieser Engel. Um ihn herum leuchtete alles. Klar hatten die Hirten Angst. Und wie. ‚Sie fürchteten sich sehr‘, heißt es im Lukasevangelium. Darum sagte der Engel, was Engel in der Bibel immer sagen, wenn sie erscheinen: ‚Fürchtet euch nicht!‘

Die Begründung, die den Hirten die Angst nehmen sollte, lautete jedoch nicht: Ganz ruhig, nichts passiert, alles bleibt wie gehabt. Die Engel verkündeten das exakte Gegenteil: ‚Euch ist heute der Heiland geboren.‘ Im Klartext bedeutet es: Von jetzt an wird alles anders, nichts bleibt, wie es ist. Und diese radikale Veränderung ist gerade kein Grund zur Furcht, sondern zur Hoffnung. In der Weihnachtsgeschichte bedeutet Umbruch Verheißung.“

Die Zeit: „Josef, der erste moderne Vater“

„Die Zeit“ beschäftigt sich in ihrer Titelgeschichte mit dem Thema „Josef, der erste moderne Vater“: „Er zieht das Kind eines anderen auf und rettet seine Frau Maria. Und doch ist Josef aus der Weihnachtsgeschichte bis heute eine Randfigur, zu Unrecht. Wer war dieser Mann?“

Die Recherche des „Zeit“-Reporters driftet allerdings ins Spekulative: „Er ließ sich ein Kind unterjubeln, um das er sich rührend kümmerte. Er nahm das Wohl seiner Frau wichtiger als den eigenen Stolz. Er war ein Normalo, der angesichts der Umstände über sich hinauswuchs.

Ein Mann der Tat, nicht des Wortes. Heute wäre Josef vielleicht Patchwork-Papa, sicherlich würde er Elternzeit nehmen. Er hätte keine MeToo-Debatte am Hals, würde nicht zum Mansplaining neigen, nicht mal breitbeinig in der Straßenbahn sitzen. Josef würde sein Geld nicht in der Kneipe versaufen, sondern abends mit der Familie Brettspiele aufklappen, man sieht es sofort als Gemälde vor sich.

Sollte Josef Fußball spielen, was unwahrscheinlich ist, stünde er in einer Altherrenmannschaft im defensiven Mittelfeld und nähme nach dem Schlusspfiff die Schmutzwäsche mit. In jeder Firma ließe Josef bei Besprechungen die anderen plappern. In einem Lehrerkollegium wäre er für den Vertretungsplan zuständig.“

Neue Zürcher Zeitung: „Der größte Trost, den wir haben“

„Der größte Trost, den wir haben“, verheißt die Neue Zürcher Zeitung auf ihrer Titelseite: „Die Erzählung der Geburt Christi ist die Geschichte einer Zusage. Gott wendet sich an die Menschen, indem er selbst Mensch wird. Nicht als erhabener Herrscher, dessen Ankunft sich mit himmlischen Brausen ankündigt. Sondern in der Stille einer Winternacht, am Rand des Römischen Reichs und in der verletzlichsten aller menschlichen Gestalten: der eines kleinen Kindes.

Das ist ein unerhörtes Ereignis, fernab aller Krippenromantik und Sonntagsschulgemütlichkeit. ‚Fürchtet euch nicht‘, hat der Engel den Hirten auf dem Feld bei Bethlehem zugerufen. Aber das bedeutet nicht: Macht euch keine Sorgen, es ist alles in bester Ordnung. Es heisst nicht mehr als: Ihr seid nicht allein. Aber auch nicht weniger. Wie groß die Not auch ist, die euch bedrängt, sagt der Engel, wie dünn der Boden auch sein mag, auf dem ihr euch bewegt: Es gibt etwas, was euch halten kann.“

Süddeutsche Zeitung: „Das Kind, das im Trog liegt“

Die Süddeutsche Zeitung denkt über das Kind in der Krippe nach: „Die Intellektuellen des frühen Christentums haben den Gehalt der Geschichten in dogmatische Formeln gegossen, deren Provokation heute kaum noch verstanden wird. ,Gott wird Mensch‘ heißt ein Glaubenssatz, radikalisiert: ,Gott wird ein Kind.‘ Man muss allen Verniedlichungen, zu denen er einlädt, eine Abfuhr erteilen.

Er lehrt: Der Mensch ist dem Menschen das höchste Wesen. Das Kind, der Ernstfall des bedürftigen und hilflosen Menschen, der Mensch in seiner schwächsten Gestalt, ist Maß aller Dinge. Das ist der Ausgangspunkt für ein Weltverständnis jenseits des Rechts der Stärkeren.

Das ist der Ausgangspunkt der Wahrheitssuche in den Dilemmata der Wirklichkeit. Das ist der Ausgangspunkt von Ethik und Moral. Nicht Götter gilt es zu ehren; nicht abstrakte Werte gilt es zu schützen; nicht Ideologien gilt es zu retten. Zu ehren, zu schützen und zu retten ist das konkrete Kind, das Kind, das im Trog liegt und schreit.“

Tagesspiegel: „Nur am Heiligabend in die Kirche?“

Im „Tagesspiegel“ erörtern Redakteure, ob es legitim oder scheinheilig ist, nur am Heiligabend in die Kirche zu gehen. Der aus der Kirche ausgetretene Redakteur Lars von Tönne schreibt: „Kirche ist nicht nur ein Synonym für Gotteshaus, sondern meint auch die Gemeinschaft der Christen, das ‚Volk Gottes‘, wie es im kirchlichen Selbstverständnis heißt. Wer sich dem zugehörig fühlt, hat an 365 Tagen im Jahr viele Möglichkeiten, das zu unterstützen, von der Zahlung der Kirchensteuer über das Engagement in der Gemeinde bis hin zu regelmäßigen Gottesdienstbesuchen.

Wer mit der Kirche bis auf diesen einen Tag im Jahr nichts zu tun hat und dann Weihnachten plötzlich mit gefalteten Händen auf engen Kirchenbänken sitzt, praktiziert etwas, das schon die Autoren der Bibel sehr kritisch sahen: Scheinheiligkeit.“

Ihm entgegnet das Mitglied der Chefredaktion Sidney Gennies: „U-Boot-Christen. Sie tauchen Weihnachten auf und dann den Rest des Jahres wieder ab. Nicht wenige regelmäßige Kirchgänger sind genervt von dieser Unverbindlichkeit. Mit ihrer eigenen Vorstellung von Glaube hat das nichts zu tun. Aber ist es deswegen verwerflich? Aus Sicht der Kirchen sicher nicht.

Die Wahrheit ist: Vermutlich sind die U-Boot-Christen längst in der Mehrheit. Das Weihnachtsfest ist für sie einer der letzten Ankerpunkte, die sie mit der Kirche noch verbinden – und sei es nur aus Liebe zum Ritual, nicht aus dem Glauben heraus.“

Welt am Sonntag: „Jesus hätte sogar Reichsbürgern die Füße gewaschen“

In der „Welt am Sonntag“ äußert Kolumnist Harald Martenstein scharfe Kritik an den Kirchen: „Die Kirchen kümmern sich ja auch, so bizarr es klingen mag, zurzeit kaum noch um Religion. Die Katholiken sind seit einer Weile stark mit den Missbrauchsverbrechen einiger ihrer Kleriker beschäftigt. Der Weg da hinaus kann ohne Wahrhaftigkeit, Reue und Buße nicht gefunden werden, dies fällt einigen Kirchenoberen leider schwer. Will man ausgerechnet Leuten seine Sünden beichten, die mit ihrer eigenen Schuld so fragwürdig umgehen?

Der Protestantismus dagegen hat sich fast vollständig in eine Vorfeldorganisation der Grünen verwandelt. Ob sie da wirklich noch an Gott glauben, ist schwer zu sagen. Aber an Robert Habeck und Fridays for Future glauben viele Pfarrer nach meinem Eindruck ganz bestimmt. Das ist ihr gutes Recht, aber eine Kirche muss offen sein für alle, oder etwa nicht? Jesus, so, wie man ihn kennt, hätte auch Vielfliegerinnen, Atomkraftwerksbetreibern und sogar ,Reichsbürgern‘ die Füße gewaschen.

Ein Christentum, das nicht für umfassende Nächstenliebe steht, für Vergebung und für den Weg zur Gnade für ausnahmslos jeden, also für eine schöne Utopie, ist überflüssig. Ihre Glaubensbedürfnisse befriedigen nicht wenige Leute inzwischen anderswo, bei Esoterikern, beim Meditieren im Yogastudio, bei der Beichte und der Absolution auf einer Analytikercouch, sehr viele in der Klimabewegung. Da gibt es ja auch die Sünde, eine Liste von unhinterfragbaren Geboten, den Weltuntergang als finale Strafe, Heiligenfiguren wie Greta, die Inhaftierten von der ,Letzten Generation‘ als Märtyrer, auch die Wut auf Ketzer ist da.

De facto ist die Klimakirche der Heiligen der letzten Tage schon staatlich anerkannt. Eine zweite Kirche dieser Art ist ebenfalls überflüssig. Und dann kommt der Heilige Abend, und es ist für mich wieder wie in meiner Kindheit, die Innigkeit, die überwältigenden sinnlichen Eindrücke, die Konzentration auf eine biblische Geschichte und ihre Botschaft. Ich denke dann, dass es auf diese Weise für die Kirche wieder besser laufen könnte, sie müsste wieder mehr mit dem Himmel zu tun haben als mit der Welt. Mit dem Diesseits befassen sich schon alle anderen.“

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