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Kommentar

Frei glauben und frei reden – ohne Selbstzensur

23.05.2023

Rechtsanwalt Felix Böllmann ist ehrenamtlich in der Initiative Christ & Jurist engagiert. Er arbeitet in Wien bei der christlichen Menschenrechtsorganisation ADF International. Foto: Bruce Ellefson
Rechtsanwalt Felix Böllmann ist ehrenamtlich in der Initiative Christ & Jurist engagiert. Er arbeitet in Wien bei der christlichen Menschenrechtsorganisation ADF International. Foto: Bruce Ellefson

Paulus schreibt in seinem Brief an die Römer, „dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung“ (Römer 5,3-4). Also müssten sich Christen in Bedrängnis wohl fühlen – wie ein Fisch im Wasser.

Doch wie die allermeisten Menschen tun sich auch viele Christen schwer damit, wenn ihre Überzeugungen und Lebensweise auf Skepsis oder Ablehnung treffen oder gar aktiv bekämpft werden. Viele spüren dann ein Unbehagen und handeln nach der Maxime „Wer nichts sagt, kann auch nichts Falsches sagen“. Sie üben Selbstzensur, was sich wiederum negativ auf die Bereitschaft anderer auswirkt, sich öffentlich zu ihrer Meinung zu bekennen.

Dieses Phänomen hat die Kommunikationswissenschaftlerin und Gründerin des Instituts für Demoskopie („Allensbach-Institut“), Elisabeth Noelle-Neumann, schon in den 1970er Jahren beschrieben und „Schweigespirale“ genannt: Weil Menschen soziale Isolation fürchten, empfinden sie Hemmungen, ihre von der – gefühlten – Mehrheitsmeinung abweichenden Ansichten zu äußern. Und dies umso stärker, je ausgeprägter der Gegensatz zwischen den gegenüberstehenden Meinungen ist. Es ist eine gefährliche Spirale, die nur eine Richtung kennt: abwärts.

Niemandem fällt es leicht, sich gegen einen solchen Trend zu stemmen. Neben der von Paulus erwähnten Geduld braucht es auch eine gute Portion Mut, um sich durch Bewährung zur Hoffnung vorzuwagen. Gott sei Dank dürfen wir diesen Mut auch aus dem starken rechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit schöpfen.

Zu den eigenen Überzeugungen stehen

Um es ganz klar zu sagen: Christen können, dürfen und sollen – wie alle Menschen – frei über ihre Überzeugungen, ihren Glauben und ihre Standpunkte sprechen. Die unter anderem im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierte Glaubensfreiheit schützt zuallererst das Recht, einen Glauben zu haben (oder auch nicht zu haben) und das persönliche Leben an seinen ureigensten Überzeugungen auszurichten. Sodann genießt auch die freie Religionsausübung – allein oder gemeinsam mit anderen – rechtlichen Schutz.

Die Schweigespirale lässt sich aber nur durchbrechen, wenn Menschen auch in der Öffentlichkeit frei zu ihren Überzeugungen stehen und sich ohne Angst in den öffentlichen Diskurs einbringen. Auch diese für die Demokratie besonders wichtige Freiheit ist rechtlich garantiert.

Längst sind zentrale Bestandteile des christlichen Menschenbildes, etwa die Komplementarität von Mann und Frau in der Ehe, die Familie und sogar die biologische Realität der beiden Geschlechter keine Selbstverständlichkeiten mehr. Das hat zum Teil gravierende Folgen für das, was Gesellschaft und Staat im Innersten zusammenhält. Auch in einer solchen Situation sind Christen aufgefordert, sich nicht entmutigen zu lassen, sondern von dem zu reden, was ihnen wichtig ist.

Der Staat in weltanschaulichen Fragen neutral

Der freiheitliche demokratische Rechtsstaat hat aus guten Gründen in weltanschaulichen Fragen neutral zu bleiben. Das bedeutet keineswegs, dass staatliche Stellen die Bürger davon abhalten sollten, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen zu haben, im Gegenteil. Der Staat darf insoweit zwar keine verbindlichen inhaltlichen Vorgaben machen. Zugleich kann das friedliche Zusammenleben aber nur funktionieren, wenn die Mitglieder der Gesellschaft Überzeugungen haben, die den Zusammenhalt und das Funktionieren des Gemeinwesens fördern, und wenn sie auch danach handeln.

Das Bundesverfassungsgericht hat im sogenannten Lüth-Urteil aus dem Jahr 1958 nicht nur die Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit als „Grundlage jeder Freiheit überhaupt“ hervorgehoben. Es hat darüber hinaus festgestellt, dass in der Gesamtheit der Grundrechte des Grundgesetzes auch eine objektive Wertordnung verkörpert ist.

Das Grundgesetz wolle, so das höchste deutsche Gericht, eben „keine wertneutrale Ordnung sein“. Vielmehr müsse das „Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, …als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. … keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.“ (BVerfGE 7, 198 (204))

Das ist eine gute Nachricht für alle. Während die Rede vom „Geiste“ des Grundgesetzes manchen Menschen vielleicht merkwürdig vorkommen mag: Christen sollten verstehen, wie das gemeint ist – und Hoffnung schöpfen.

Meinungsfreiheit als Grundlage der Freiheit überhaupt

Als Fundament einer freiheitlichen Gesellschaft sind Grundrechte unverhandelbar. An der Universalität der Menschenrechte zu rütteln, kommt dem buchstäblichen Sägen an dem Ast, auf dem man sitzt, gleich. Wer seine Grundrechte hingegen aktiv und mit Respekt für die Rechte anderer wahrnimmt, gewinnt nicht nur für sich selbst die von der Verfassung garantierte Freiheit, sondern tut zugleich etwas für den Bestand der gesamten Rechtsordnung.

Am Beispiel der Meinungsfreiheit bedeutet das konkret: Mitunter erscheint es so, als müsse sich jemand für das freie Äußern seiner Ansichten rechtfertigen. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Nicht die Äußerung bedarf der Rechtfertigung, sondern ihre Beschränkung. Solche Beschränkungen kennt das Recht durchaus. Aber sie sind die Ausnahme und in Summe gering im Vergleich zu dem verfassungsrechtlich geschützten Freiraum für Austausch, Diskussion und – ja, auch Streit. Vermeintlich schlechte Meinungen werden erfolgreich nicht durch Verbote bekämpft, sondern durch mehr Austausch und das bessere Argument.

Rechtlicher Schutz

Vergessen wir nie: Die Entstehung des Grundgesetzes stand unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse der Nazizeit, unter anderem der weitgehenden Gleichschaltung der Gesellschaft durch extreme Beschränkungen der Freiheiten des Einzelnen, mit katastrophalen Folgen für Millionen von Menschen.

In bewusster Abgrenzung davon erhielt die Meinungsfreiheit im Grundgesetz den hohen Stellenwert, den das Bundesverfassungsgericht beschreibt: Zugunsten der Freiheit, für einen fairen und demokratischen Wettstreit der Ideen, für das gesellschaftliche Ringen um Richtung und Wahrheit.

Der Einsatz von Christen für Grundrechte ist gefragt, als „Salz und Licht“ zum Wohle aller. Denn das jüdisch-christliche Menschenbild liefert eine lebbare Begründung für Menschenwürde und individuelle Freiheit.

Der Ton macht die Musik

Hoffnung verbreiten vor allem Menschen, die mit Nächstenliebe, Humor und Respekt für andere über ihre wichtigen Anliegen sprechen. Machen wir uns nichts vor: Glaubensfragen, aber auch Themen wie das Recht auf Leben, Ehe und Familie oder die Erziehung und Bildung von Kindern haben es im öffentlichen Diskurs nicht leicht. Sie sind komplex und Menschen machen damit persönlich sehr unterschiedliche Erfahrungen. Das sollte uns nicht daran hindern, auf zugewandte Weise diese Erfahrungen auszutauschen: Finden wir Worte, die ebenso ehrlich wie wertschätzend sind.

Die Schweigespirale überwinden

Im Gegensatz zum Staat ist der Einzelne rechtlich nicht zur Neutralität verpflichtet. Ziel ist nicht die Einigkeit mit jedem in allen Fragen. Und auch nicht, dass ich für meine Meinung Beifall ernte. Ein wesentliches Ziel der Rechtsordnung ist aber das friedliche Miteinander, gerade angesichts aller bestehenden Differenzen. Die Grundrechte sind dabei ähnlich wie ein Muskel: Sie müssen gebraucht werden, um nicht zu verkümmern.

Wenn wir angesichts des Meinungsstreits ein Unbehagen spüren, dann sprechen wir doch miteinander. Sprechen wir von unseren Überzeugungen und Erfahrungen. Geben wir einander Anteil an dem, was uns wirklich wichtig ist, werben wir für das, was wir für richtig halten, und bleiben wir zugleich offen für unseren Nächsten. Nur eins sollten wir nicht tun: schweigen und unsere wahren Überzeugungen voreinander verbergen.

Rechtsanwalt Felix Böllmann ist ehrenamtlich in der Initiative Christ & Jurist engagiert. Er arbeitet in Wien bei der christlichen Menschenrechtsorganisation ADF International (Allianz zur Verteidigung der Freiheit).

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