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Kommentar

FeG-Präses Hörsting: Impfpflicht wäre „zurzeit verfrüht“

10.01.2022

Der Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, Ansgar Hörsting. Foto: IDEA/ Daniela Städter
Der Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, Ansgar Hörsting. Foto: IDEA/ Daniela Städter

Auch unter Christen wird über eine allgemeine Impfpflicht diskutiert. Die Evangelische Nachrichtenagentur IDEA bat darum den Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden (FeG), Ansgar Hörsting (Witten) um eine Stellungnahme.

Kaum ein Gespräch, das nicht „Corona“ und alle daran angrenzenden Themen zum Inhalt hat. Kaum ein Thema, das uns nun so lange und so intensiv in Atem hält. Kaum ein Thema, das zeigt, dass Menschen einer Gesellschaft mit sehr verschiedenen Ansichten leben. Kaum ein Thema, das weltweit so starken Einfluss hat.

Da viele Fragen auch das Verhältnis von Gesellschaft und Evangelium bzw. Gemeinde betreffen, verweise ich zunächst auf den Grundlagentext „Das Evangelium Gottes von Jesus Christus“, der auf den Seiten 36 ff. dazu Grundlegendes sagt verlautbarungen.feg.de. An diese Thesen knüpfe ich mit diesem Text an.

Herausfordernde Standpunkte

Ich nehme sehr verschiedene Stimmen und Nöte wahr. Und das sowohl in der Gesellschaft als auch in unseren Gemeinden. Dass verschiedene Stimmen zu hören sind, ist Ausdruck einer pluralen Gesellschaft und das sollte uns nicht überraschen.

Für die einen ist es gar keine Frage: Natürlich lassen sie sich impfen. Ihnen ist die Datenlage klar genug und es spricht für sie nichts oder kaum etwas dagegen. Andere gehen zurückhaltender dran und warten noch. Wiederum andere folgen eher den Argumenten der Skeptiker, so verschieden diese auch sind, manche sogar den Verschwörungstheorien, die man besser Verschwörungsideologien nennt. In Gemeinden und Kirchen gibt es auch diejenigen, die in den aktuellen Ereignissen eine Erfüllung von Aussagen der „Offenbarung des Johannes“ sehen und vor dem Impfen warnen! Die Argumente scheinen mir manchmal ruhig und sachlich vorgebracht, manchmal aber auch in einem schrillen Alarmton. Manche Argumente machen mich nachdenklich, andere finde ich abstrus und völlig aus der Luft gegriffen. Und es ist in Wahrheit noch viel komplizierter als hier kurz skizziert.

Ich selbst habe mich impfen lassen. Die Argumente waren für mich stark genug. Ich gehöre selbst nicht zu einer Risikogruppe, aber mir ging es ja darum, auch die zu schützen, die zu einer gehören. Ich habe mir bewusst gemacht, dass es nicht nur um mich und meine Gesundheit, sondern genauso um die der Anderen geht, vor allem der Vorerkrankten und „Schwachen“. Außerdem wollte ich mich nicht langfristig ins Private zurückziehen! Schließlich schien mir die Sicherheit der Impfstoffe genügend erwiesen. Ich kenne aber genug Menschen, die sich nicht impfen lassen und erlebe schwierige Gespräche: Immer mehr fühlen sich moralisch oder sogar existenziell unter Druck gesetzt, weil sie sich nicht impfen lassen. Andere üben mit Weltuntergangsszenarien oder moralisierenden Argumenten ihrerseits Druck aus.

Verbal abrüsten

Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, mich impfen zu lassen. Ich schütze mich und auch meinen Nächsten. Zugleich achte ich sehr darauf, das Impfen nun nicht als die eine christliche Tugend zu verklären. Diese Moralisierung finde ich befremdlich. Ich finde es schlimm, wenn Geimpfte diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, verunglimpfen oder sie pauschal als Menschen darstellen, die der Welt Schaden zufügen, und sie nur durch diese eine Brille ansehen.

Und genauso schlimm ist es andersherum, wenn die Nichtgeimpften die Geimpften verunglimpfen und sie verdächtigen, sich dem verführerischen Mainstream hinzugeben und blind zu sein für die wahren Machenschaften von Regierungen und Medien. Ich meine, es täte uns gut, verbal abzurüsten. Jede Entscheidung ist eine Abwägung von Risiken, Werten, Argumenten und Erfahrungen. Wir wünschen uns den einen „goldenen Weg“, den es aber leider wohl nicht gibt. Ich denke an das Jesuswort, dass wir Frieden stiften sollen. Das empfinde ich als eine (nicht die einzige, aber eine) wichtige Aufgabe in diesen Zeiten.

Ja, es gibt die rechtsextremen Kräfte, Verschwörungstheoretiker oder sich selbst so nennende Querdenker, die die Bewegung gegen das Impfen für sich vereinnahmen. Zugleich weiß ich aus eigener Erfahrung: Man kann nicht verhindern, wenn man aus der falschen Richtung Applaus bekommt für eine Sache, die man selbst für richtig hält. Was ich allerdings gar nicht nachvollziehen kann, ist, wenn Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, sich als christliche Widerstandskämpfer oder Märtyrer betrachten.

Impfpflicht

Eine besondere Herausforderung wird in diesen Tagen die Diskussion um die allgemeine Impfpflicht werden. Diese Thematik ist sehr schwer und schwerwiegend. Deswegen werden die Bundestagsabgeordneten nicht einem Fraktionszwang, sondern ihrem Gewissen unterliegen. Das ist gut. Aber sollte die allgemeine Impfpflicht eingeführt werden, muss sich jede und jeder impfen lassen und kann nicht mehr seinem Gewissen folgen, es sei denn, man nimmt Bußgelder oder sogar andere Sanktionen in Kauf. Wenn es je eine Zeit gab, in der sich unsere Meinungen und Einsichten verändern, und wir einsehen müssen, dass wir immer nur einen Teil der Realität erfassen, dann jetzt.

Ich meine, es gibt noch andere Maßnahmen, die vor der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht ergriffen werden müssen und können und welche die Impfquote verbessern würden, wie z. B. eine Kommunikation, die die verschiedenen Zielgruppen noch besser anspricht, oder einen leichteren Zugang zu Impfterminen. Wenn ich bedenke, wie schwer es für mich war, der ich mich impfen lassen wollte, Impftermine zu bekommen, ist es leicht auszurechnen, wie hoch die Hürde für jemanden ist, der eher skeptisch ist. Eine allgemeine Impfpflicht wäre meines Erachtens zurzeit verfrüht, auch wenn ich die Argumente, die dafürsprechen, verstehe.

Ermutigen und zusammenhalten

Ich habe die Sorge, dass wir gar nicht mehr über die Themen von Impfpflicht oder unseren jeweiligen Beitrag für das Gemeinwesen in Freundeskreisen oder Gemeinden diskutieren, weil jeder Angst vor einer Eskalation oder Spaltung hat. Denn „Grabenkämpfe“ gibt es schon genug und keiner hat Lust darauf. Können wir nicht diskutieren und dabei immer auch hinhören? Können wir nicht verbinden und gleichzeitig hart in der Sache argumentieren, ohne dass die Scharfmacher das Heft in die Hand bekommen?

Als generelle Linie möchte ich für unsere Diskussionen gerne folgenden Gedanken einbringen: Manche argumentieren von einer rein individualistischen Seite. Sie sehen (fast) nur sich, ihre Gesundheit, ihr Gewissen, ihre Einschränkungen und betonen sehr stark ihre sehr individuelle Lebensorientierung (Unabhängigkeit / Independenz / Individualismus). Andere betonen nun die staatliche Autorität, die sich zum Schutze des Kollektivs und der Schwachen durchsetzen müsse, koste es, was es wolle (Abhängigkeit/Dependenz /Kollektivismus).

Ich plädiere für ein Menschen- und Gesellschaftsmodell der Interdependenz (gegenseitige Abhängigkeit von selbstständigen Menschen): Wir sind Individuen, ja, aber wir sind es immer als Teil einer Gemeinschaft. Das könnte helfen, die Individualrechte zu schützen, aber sie nicht zu verabsolutieren, sondern in den Dienst für das Gemeinwohl zu integrieren. Als Freie evangelische Gemeinden sind wir in diesem Modell recht gut geübt, denn wir leben als Bund und Gemeinden seit Jahrzehnten in einer solchen Dynamik. Sogar das Gewissen des Einzelnen braucht und hat einen festen Bezugspunkt in Gottes Wort und braucht die Schärfung durch ein Gegenüber.

Noch etwas zu unseren Gemeinden. Es ist wichtig, die Entscheidungen der Gemeindeleitungen für die Ortsgemeinden zu unterstützen. Sie müssen in einer sehr schwierigen Gemengelage Verantwortung übernehmen. Sie kommen zu unterschiedlichen, oft hart errungenen Entscheidungen, vor allem auch, was die Regeln angeht, die anzuwenden sind, um das Gemeindeleben aufrecht zu erhalten, Menschen zu ermutigen und zusammenzuhalten. Ich wünsche mir, dass wir ihr Ringen unterstützen, das bedeutet nicht kritikloses Abnicken, sondern drückt ein Grundvertrauen und eine Unterstützung aus – auch bei unterschiedlichen Meinungen und Einschätzungen.

Lesen Sie hier auch die zusammenfassende IDEA-Meldung „Was führende Pietisten und Freikirchler von einer Impfpflicht halten“.

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