Bericht
Die Weihnachts-Rettungsgasse
23.12.2022
Er rückt aus, um Leben zu retten – auch an Weihnachten. Dabei kommt Notarzt Klaus Friedrich auch an eigene Grenzen. Von Romy Schneider
„Es gibt Momente, die hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, sie einmal zu erleben“, sagt der Notarzt Klaus Friedrich. Dazu gehört der Rettungseinsatz für einen Säugling. Das einjährige Kind sei gestürzt, meldete die Rettungsleitstelle. Friedrich fuhr sofort los. Als er das Kind untersuchte, machten ihn die Verletzungen stutzig. Die passten nicht zu einem Sturz. Er entdeckte Brandmale wie von ausgedrückten Zigaretten auf der Haut. Friedrich versorgte das Kind und alarmierte die Polizei. Wie die später ermittelte, wurde der Säugling schwer misshandelt und sexuell missbraucht. Dieses Leid hat Friedrich sehr erschüttert. Der Einsatz geht dem 62-Jährigen bis heute nach.
Seit über 40 Jahren ist der gebürtige Nürnberger im Rettungsdienst tätig. Als Medizinstudent begann er bereits ehrenamtlich als Rettungssanitäter. Nach vielen Jahren in der Chirurgie in einem Krankenhaus war er bei der Bereitschaftspolizei als Notarzt tätig. Heute arbeitet er zwar hauptberuflich in leitender Funktion beim Nürnberger Gesundheitsamt, doch er fährt weiterhin mehrmals im Monat Einsätze. Beim Treppensteigen gestürzt, Kreislaufprobleme, Herzinfarkt, Schlaganfall oder ein Unfall auf der Autobahn: Das sind Routinefälle für den Rettungsdienst.
Friedrich ist freikirchlicher Christ. Manchmal bleibt er auch am Bett von älteren Patienten sitzen, hält ihre Hand und spricht ein Gebet – während sie aus dem Leben scheiden. Begleitung auf der letzten Wegstrecke des Lebens gehört für ihn dazu. Muss er der Ehefrau, dem Vater oder Kind die Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen überbringen, sind das keine einfachen Momente. Da ist auch bei ihm Trauer.
Narben an der Seele
„Manche Einsätze hinterlassen Narben in meinem Leben“, sagt er. Narben verschließen Wunden. An der verletzten Stelle machen sie widerstandsfähiger. Narben erinnern an schmerzhafte Erlebnisse.
Der Einsatz im mittelfränkischen Georgensgmünd hat eine tiefe Narbe hinterlassen in Friedrichs Leben. Oktober 2016: Er gehörte als Arzt zum Spezialeinsatzkommando (SEK) der bayerischen Polizei. Bei einer Razzia wollten Beamte im Haus eines Anhängers der Reichsbürgerbewegung Waffen beschlagnahmen. Als die Polizisten eindringen wollten, eröffnete der Mann das Feuer. Mehrere Beamte wurden von Kugeln getroffen. Friedrich kümmerte sich um einen angeschossenen 32-jährigen SEK-Beamten. Der war nicht nur sein Kollege, sondern auch sein Freund. Er kämpfte um sein Leben. Erfolglos.
Jedes Jahr steht er zum Gedenken mit Kameraden an dessen Grab. Dann kommen auch die Bilder wieder hoch, und er merkt: „Das lässt einen auch nach Jahren nicht los.“
Was bei der Verarbeitung hilft
Für solche Grenzerfahrungen, die trotz Ausbildung und Training emotional erschüttern, brauchen Rettungskräfte Bewältigungsstrategien. Friedrich hat Freunde, bei denen er auch nachts um drei Einlass erhält. Doch vor allem sind es die Kollegen auf der Rettungswache, mit denen er spricht. Man sitzt zusammen, geht auf ein Bier in die Kneipe. Man redet auch über die eigene Unzulänglichkeit. Hätte ich es besser machen können? Habe ich etwas übersehen? Rettungsleute untereinander wissen, was belasten kann. Man steht zusammen – auch nach dem Einsatz.
Eine Stütze ist ihm auch seine Frau, die selbst Ärztin ist. „Keiner kennt mich so gut wie sie“, sagt Friedrich. Und er sucht das Gebet und weiß, seine Frau und seine Gemeinde stehen hinter ihm.
Wie beim G8-Gipfel im Juni 2007 im Ostseebad Heiligendamm. Die friedlichen Proteste Zehntausender Demonstranten bei dem Treffen von Staats- und Regierungschefs nutzten vermummte Autonome für eine Orgie der Gewalt. Sie demolierten, was ihnen in den Weg kam. Errichteten Barrikaden aus Mülltonnen. Mit unglaublicher Brutalität attackierten sie Polizisten und schlugen mit Stangen auf Einsatzfahrzeuge ein. Viele Menschen wurden verletzt, darunter mehr als 430 Polizisten. Notarzt Friedrich kümmerte sich mit anderen Kollegen um die Verwundeten. „So muss Krieg sein“, dachte er. Auch er fürchtete um Leib und Leben. Für die Bewahrung ist er bis heute dankbar.
Statt anpacken, Handy zücken
Fast nie können Rettungskräfte innerhalb von fünf Minuten am Unglücksort sein. Das ist das kritische Zeitfenster bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand. Deshalb ärgere es ihn, wenn ein Mensch stirbt, der bei sofortigen Wiederbelebungsmaßnahmen gute Chancen gehabt hätte. „Wir leben in einer Dienstleistungsgesellschaft: Da passiert etwas, man macht einen Notruf und wartet ab. Aber dass Menschen selber mit Herzdruckmassage anfangen, erleben wir leider sehr, sehr selten“, sagt er resigniert.
Er verstehe das durchaus: Angehörige und Passanten stehen unter Schock oder fürchten, etwas falsch zu machen. „Aber man kann nichts verkehrt machen, außer nicht zu helfen“, versichert der Arzt. Streng genommen wäre das unterlassene Hilfeleistung. „Wir Rettungskräfte können nur das fortführen, was begonnen wurde. Das ist das Problem“, sagt er. Häufig erlebe er auch, dass Leute mit dem Handy filmen und die Arbeit der Rettungskräfte kommentieren. Das macht ihn wütend.
Frau tot, Witwer bringt Geschenk
Wenn in diesen Weihnachtstagen das Kirchenlied „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit; es kommt der Herr der Herrlichkeit“ gesungen wird, sieht Friedrich darin die erste Rettungsgasse überhaupt. „Wenn wir Jesus, unseren Retter, nicht in unser Herz lassen, kann er unser Leben nicht erretten.“
Weihnachten oder Silvester übernimmt er oft Dienste, damit junge Kollegen vielleicht bei ihren Familien sein können. Einmal wurde er Heiligabend zu einem Notfall gerufen. Eine Frau mittleren Alters war zu Hause zusammengebrochen. Er konnte ihr Leben nicht retten, und sie verstarb vor den Augen ihres Mannes.
Was darauf passierte, hat Friedrich erstaunt. Der Witwer kam am ersten Weihnachtstag auf die Rettungswache. Er brachte ein Geschenk für die Helfer. „Das hat uns berührt“, so Friedrich. Denn für sie war es eine erfolglose Reanimation – und ein trauriger Einsatz an Weihnachten. „Aber er wollte sich einfach bedanken dafür, dass wir alles versucht haben, seine Frau zu retten.“ Dass sich jemand auch mal bedankt bei den Menschen, die rund um die Uhr ausrücken, um Leben zu schützen und zu retten: „Das passiere nicht in einem Promille der Fälle.“ Diese Weihnachtserfahrung gehört für ihn zu den schönen Erlebnissen im Rettungsdienst.
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