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Kommentar

Die Entscheidung

21.03.2023

Ein Junge mit Downsyndrom. Symbolfoto: unsplash.com
Ein Junge mit Downsyndrom. Symbolfoto: unsplash.com

Maren Müller-Erichsen bekam 1975 ein Kind mit Downsyndrom. Heute setzt sie sich für Menschen mit Behinderung ein.

Im Jahr 1975 war ich schwanger. Es ging mir gut und die Freude auf mein zweites Kind war groß.

Kurz darauf erzählte mir eine Bekanntevon der Amniozentese, einer Fruchtwasseruntersuchung. Schließlich sei ich mit meinen 35 Jahren nicht mehr die Jüngste und könnte mit dieser Untersuchung klären, ob das Kind „normal“ und nicht behindert sei. Bei einem Gespräch mit meinem Frauenarzt erklärte er mir, dass diese Untersuchung nicht notwendig wäre, da in meiner Familie noch nie ein behindertes Kind geboren worden war.

Welch ein Glück für Olaf, meinen Sohn. Ich weiß nicht, wie ich mich nach einer Fruchtwasseruntersuchung entschieden hätte. Ich kannte keine Kinder in meiner Umgebung mit dem Downsyndrom. Mein Umfeld, selbst mein Mann, hätte mich zur Abtreibung gedrängt. Aber so wurde Olaf mit dem Downsyndrom geboren. Der zuständige Kinderarzt der Klinik sagte mir kurz nach der Geburt: „Sie haben ein schwer behindertes Kind, einen Idioten geboren. Am besten geben sie es gleich in ein Heim. Ich habe schon mit ihrem Mann gesprochen und ihm eine Adresse gegeben.“ Der Schock saß tief. Warum gerade ich? Ich hatte viele Fragen an Gott.

Zwei Wochen lang sah ich Olaf nicht, da er wegen Gelbsucht in die Kinderklinik verlegt wurde. Von dort holte ich ihn nach Hause und es begann eine Liebesgeschichte, auch mit seinem Bruder Michael. Die beiden verstanden sich blendend und Michael wurde der beste Therapeut für Olaf. Er entwickelte sich prächtig, lernte laufen sprechen und schreiben, war immer zu Scherzen aufgelegt und wollte Zoologe werden.

Olaf besuchte eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Dort gefiel es ihm nicht. Dann arbeitete er als Helfer in einer Kindertagesstätte. Olaf reiste gerne in den Norden und las diverse historische Bücher. Sein Lieblingsschriftsteller war Shakespeare.

Nach einem Nierenversagen war er vier Jahre lang auf Dialyse angewiesen. Dann erhielt er eine neue Niere, die 16 Jahre lang gut arbeitete. 2021 erkrankte er an Corona. Als Risikopatient überstand er die Infektion nicht. Im April 2021 starb er.

Als Vorsitzende des Vereins Lebenshilfe setze ich mich für die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen ein. Weil sie auch ein glückliches Leben führen und unseres bereichern können.

(Maren Müller-Erichsen ist Vorstandsvorsitzende der Lebenshilfe und leiht als Hessische Landesbeauftragte denjenigen ihre Stimme, die nicht für sich selbst eintreten können. In dem neu erschienen Buch „Geliebte Kinder“ (adeo) erzählt sie ihre Geschichte.)

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