Bericht
Das Leise im Lauten
24.12.2022
Zwei Prozent der Bevölkerung Israels sind Christen. Dass auch für sie das Kommen des Erlösers unmittelbar bevorsteht, merkt man im Heiligen Land kaum. Und doch gibt es die Orte, an denen man das Leise des Christfestes im Lauten der orientalischen Welt findet. Eine vorweihnachtliche Entdeckungsreise von Julia Bernhard.
„Christmas Sale, we have Christmas Sale! Come and have a look. I have wonderful shop!“ Im arabischen Shuk in der Jerusalemer Altstadt geht es hoch her. Es ist ein ganz normaler Dienstag im Advent. Es wird gebrüllt, was das Zeug hält. Jeder versucht, den anderen zu übertönen. Irgendwo zwischen orientalischen Tüchern, scheinbar versilberten Blechdosen, Kruzifixen und Marienstatuen werden Kamele für die heimische Krippenlandschaft angeboten.
Mahmoud, einer der Verkäufer, die ihre Läden in der Christian Quarter Road haben, erklärt, die Kruzifixe gingen immer besser. Das Geschäft mit dem Gekreuzigten ist natürlich gängiger in der Stadt, in der Jesus hingerichtet wurde. Wegen Weihnachten kämen hier momentan nicht viele. Das sei nur am 24. Dezember vorübergehend besser.
Absurde Spuren der Weihnacht
Überhaupt ist der Advent keine typische Reisezeit für Israel, obwohl das Thermometer angenehme 20 Grad zeigt. Für die ultraorthodoxen Juden, die Haredim, die in ihren langen schwarzen Mänteln zur Klagemauer hasten, ist es ein gutes Wetter: Immer in Eile schwitzen sie jetzt deutlich weniger. Mit ihren dunklen Farben dominieren sie die Straßen – auch außerhalb der Altstadt.
Ihr Bevölkerungsanteil wird bis 2040 Berechnungen zufolge auf 20 Prozent steigen. Deshalb fällt das Mädchen in seinem tannengrünen Kleid mit den bunten Kugeln sofort auf. Fröhlich wippt der kleine wandelnde Tannenbaum auf und ab. Es sind absurde Spuren der Weihnacht, die in Jerusalem zuerst ins Augen fallen.
Lichter überall
In der Fußgängerzone des schicken Mamilla-Viertels unterhalb des Jaffators dröhnt aus den Lautsprechern der vielen Luxusboutiquen die neueste Elektromusik. Mittendrin steht ein Weihnachtsfan der ganz besonderen Art: alternativ gekleidet, lange Lockenhaare, die E-Gitarre fest im Griff. Verträumt zupft er „White Christmas“ vor sich hin, während die Sonne die Einkaufspassage durchströmt und die Flanierenden wärmt. Man hört den Gitarristen kaum. Über seinem Kopf beginnen die Lichterketten hektisch zu blinken.
Von der Energiekrise scheinen die Israelis nichts gehört zu haben – zumindest was ihre Beleuchtung in dieser Jahreszeit angeht. Überall glänzen Lichter. „Wir lieben den Kitsch von Christmas“, erklärt der Touristenführer Avital, der am Jaffator auf die nächsten Kunden wartet. Manche Israelis reisten extra in die größeren Städte, um einen der Plastikweihnachtsbäume zu bewundern, den die Stadtverwaltungen an öffentlichen Plätzen aufstellen. „Vielleicht sind wir ein bisschen neidisch auf Weihnachten“, mutmaßt er. Gegenüber wird die Weihnachtsbeleuchtung am altehrwürdigen New Imperial Hotel angebracht.
Ein Foto mit dem Weihnachtsmann
An der Hauswand des Hotels hängt ein kleines rotes Hinweisschild, das auf den ersten Blick kaum zu sehen ist: Santa’s House. Die Gasse des Lateinischen Patriarchats hinauf wird es immer festlicher: auf der einen Seite große aufgeblasene Gummiweihnachtsmänner, auf der anderen Seite leckerster Weihnachtslikör in der Auslage. Ein Betrunkener mit Rentiergeweih auf dem Kopf wünscht „Merry Christmas!“.
Am Haus des Weihnachtsmannes, der sich selbstbewusst als „einziger Santa im Heiligen Land“ bezeichnet, ist nichts los. Eine Familie kommt die Gasse erwartungsfroh hinuntergelaufen. Doch dann große Enttäuschung: Santa hat heute zu. Die älteste Tochter klingelt dennoch. Oben auf dem Balkon des Hauses erscheint Issa Kassissieh, ein ehemaliger Basketballprofi. Seit sieben Jahren erfreut der palästinensische Christ Kinder aus aller Welt in seinem Haus, das er mit viel Liebe zum Detail in eine Weihnachtsmann-Welt verwandelt hat. Wer will, kann ein Foto mit dem weißbärtigen 1,90 m großen Mann bekommen. Nur heute nicht. Man solle bitte Donnerstag wiederkommen.
Zwei Tage später ist Issas Haus offen. Die Schlange ist beachtlich. Laut eigenen Aussagen reicht Issa jedem die Hand – egal welcher Religion er angehört. Er sieht in seiner Arbeit auch einen kleinen Teil der Versöhnungsarbeit zwischen Christen, Moslems und Juden. Denn den Weihnachtsmann, den liebe jeder, sagt er. Trotzdem ist das Statement von Issa klar lesbar: „Jesus ist der Grund für die Feierlichkeiten“, steht auf einem großen Banner neben der offenen Tür.
Auf nach Bethlehem!
Geöffnet ist jetzt auch der Jerusalem Christmas Market am New Gate. Ihn erreicht man nach nur fünf Minuten Weg. Eine „Feier der Geschmäcker und Lichter“ heißt es auf den Werbeplakaten. Tatsächlich gibt es auch hier Lichterketten ohne Ende, einen großen Tannenbaum – angeblich den größten in Jerusalem – und viele Essensstände. Und jede Menge Einheimische und Touristen.
Aus den Boxen entlang der Festmeile tönt Orgelmusik – und kurz darauf nicht ganz passend der Bolero von Ravel. Ein kleiner Junge darf trompeten. Einige Leute klatschen. Der Rest kauft sich Nüsse oder eine warme Suppe. Vom kommenden Erlöser weiß man hier wenig. Eigentlich ist es auch egal. Geboren wurde er ohnehin in Bethlehem, oder etwa nicht, fragt ein Verkäufer ein wenig genervt.
Nur sechs Kilometer und ein Checkpoint trennen Jerusalem von Bethlehem, dem Ausgangspunkt der wunderbaren Geschichte Gottes mit den Menschen. 30.000 Menschen leben in der kleinen Stadt im Westjordanland, etwa weniger als 20 % von ihnen sind Christen – Tendenz abnehmend. Die Fahrt zur Krippe führt durch Dutzende von Baustellen, über unebene Straßen und dauert etwa eine halbe Stunde. Dafür kostet sie umgerechnet gerade einmal 1,50 Euro. Im krassen Gegensatz zu den sonstigen Lebenshaltungskosten, die in Israel in den vergangenen Jahren so explodiert sind, dass immer mehr Familien am Existenzminimum leben und die ultraorthodoxen Männer sich teilweise gezwungen sehen, das Thora-Studium zugunsten eines bezahlten Jobs vorübergehend an den Nagel zu hängen.
Sexy Weihnachtsfrau-Kostüme
Auch im zum palästinensischen Selbstverwaltungsgebiet gehörenden Westjordanland sind die Lebensumstände alles andere als berauschend. Die Straßen, die hinauf ins Zentrum führen, sind brechend voll. Überall werden Waren feilgeboten, oft von Kindern, die man um diese Zeit gewöhnlich in der Schule wähnt. Weihnachtstouristen erwartet man hier nicht. Der einzige Laden, der etwas – im weitesten Sinne – Festliches anbietet, verkauft sexy Weihnachtsfrau-Kostüme. Erst an der Geburtskirche trifft man auf die Ausländer, die sich mit Reisebussen oder dem Taxi direkt zum wichtigsten Ort des Geschehens haben bringen lassen.
Raufereien in der Geburtskirche
Im Untergeschoss der fünfschiffigen Basilika markiert ein Schrein die Höhle, in der Jesus geboren worden sein soll. Im 4. Jahrhundert haben Christen hier die Kirche errichtet, die als eine der ältesten der Christenheit gilt und ins UNESCO-Welterbe aufgenommen wurde. Lange Zeit verfiel sie. Seit einigen Jahren wird sie aufwendig restauriert.
Armenier, Franziskaner und die Griechisch-Orthodoxen teilen sich die Verwaltung der Kirche. Obwohl hier drei Konfessionen weniger zugange sind als in der Jerusalemer Grabeskirche, gibt es auch in der Geburtskirche immer mal wieder handgreifliche Auseinandersetzungen. Die müssen dann von der Polizei aufgelöst werden.
Heute ist es ruhig. Die Armenier putzen die goldenen Kerzenleuchter. Der ganze Prunk erinnert nicht an das arme Kind in der Krippe. Vor der Geburtsgrotte sitzen zwei junge Frauen auf dem Boden und beten andächtig, während ein anderer Besucher mit seinem Mobiltelefon ein Selfie nach dem anderen schießt. Dann rutscht er auf dem glatten Boden aus und fängt sich an einem der stabil aufgehängten Gemälde ab. Plötzlicher Krach, Nervosität. Nichts passiert, alle können weiterbeten.
Der Traum von Jerusalem
Draußen auf dem Platz wird „Geburtsbier“ verkauft. Viele andere Läden haben zu. Zwei Jahre Corona mit einer völligen Abschottung des Westjordanlandes von der Außenwelt haben nicht alle überlebt. Jack Giacaman schon. Bereits in fünfter Generation betreibt er seine Werkstatt und seine Läden. Die Figuren und der Schmuck werden ausnahmslos aus Olivenholz gefertigt.
Weihnachten, das ist für den palästinensischen Christen Hoffnung und Freude. Das müsse man transportieren bei all dem Ärger, den auch Giacaman aufgrund der politischen Lage verspürt: „Bethlehem ist ein sehr kleines Gefängnis für uns. Wir kommen hier kaum heraus. Meine Frau hat ein Arbeitsvisum für Jerusalem, ich darf auch dorthin.“ Aber seine beiden Teenager-Töchter träumen schon seit Jahren vergeblich davon, einmal für Weihnachten rüber in die große Stadt zu gelangen.
Die Gegensätze im Heiligen Land
Jerusalem ist Sehnsuchtsort für Christen, Muslime, für Juden sowieso. Sie alle treffen hier aufeinander. Auch in der Adventszeit, wenn die Erwartungen besonders hoch sind. Abends veranstaltet die Kantorei der deutschen Erlöserkirchengemeinde in der Jerusalemer Altstadt ein Adventskonzert. Der Chor, bestehend aus vielen deutschen Studenten, aber auch einem Benediktinerpater, intoniert verschiedene deutsche und internationale Weihnachtslieder. Die Aufführung ist gut besucht. Es sind nicht wenige, die die Ruhe und die adventliche Besinnung in der großen, auf Initiative von Kaiser Wilhelm II. erbauten und am Reformationstag 1898 eingeweihten Kirche suchen; draußen versuchen die Händler lautstark, noch letzte Kamele an den Mann zu bringen.
Es sind die Gegensätze, die in diesem Land ohnehin regieren. Sie bestimmen auch die Adventszeit. Das Laute gegen das Leise. Am Ende vielleicht das Leise im Lauten. Man findet es, während die letzten Töne des altbekannten Weihnachtsliedes „Stille Nacht, Heilige Nacht“ in der Krypta verhallen. Dann brandet der Applaus auf.
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