Bericht
60 Jahre Berliner Mauer: Blick in den Abgrund
13.08.2021
Am 13. August jährt sich der Mauerbau in Berlin zum 60. Mal. Der junge Journalist Uwe Siemon-Netto berichtete damals für die US-Nachrichtenagentur Associated Press direkt aus der geteilten Stadt. Für IDEA erinnert er sich an die turbulenten Tage im Sommer 1961.
„Wir haben in den Abgrund geblickt“, sagte William Eacho, der US-Botschafter in Wien, unmittelbar bevor der Staatsrats-vorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, West-Berlin mit Stacheldraht umzäunte und mit dem Bau einer Mauer begann. Sie sollte innerhalb der ehemaligen Reichshauptstadt 45 Kilometer lang werden und dann auch noch die Westsektoren über 120 Kilometer von ihrem DDR-Umland abriegeln.
Am 13. August 1961, einem Sonntag, rief mich morgens um acht mein Chefredakteur an. „Sie müssen umgehend zum Flughafen!“ sagte er. „Ulbricht hat die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin geschlossen. Sie sind ja mit dem Thema vertraut.“ Ich war damals Redakteur bei der Nachrichtenagentur Associated Press in Frankfurt am Main. In den vorangegangenen Monaten hatte ich unzählige Texte über eine dramatisch anschwellende Fluchtwelle redigiert.
Täglich setzten sich tausend DDR-Bürger in die Westsektoren ab, vorwiegend Akademiker, Handwerker und hochqualifizierte Facharbeiter. Der SED-Staat drohte auszubluten, seine Kirchen allerdings auch, denn ihre treuesten Mitglieder stammten gerade aus diesen Kreisen. Die grimmige Reaktion Moskaus machte einen Atomkrieg immer wahrscheinlicher.
Kennedy und seine Eierköpfe
Im Juni 1961 trafen sich der junge US-Präsident John F. Kennedy mit dem sowjetischen Premierminister Nikita Chruschtschow in Wien; hauptsächlich ging es um die Flüchtlingskrise. Ich war zur Verstärkung des Wiener AP-Büros dorthin entsandt worden und kannte die tiefen Sorgen westlicher Diplomaten und Journalisten über den fatalen Verlauf dieser Gipfelkonferenz. Chruschtschow (67) nahm Kennedy (44) nicht ernst. Er nannte ihn ein „Bübchen in kurzen Hosen“.
Tatsächlich wirkte Kennedy auch unreif; obendrein war er umgeben von „Eierköpfen“, wie seine linksliberalen und wenig deutschfreundlichen Berater genannt wurden. Sie legten Kennedy nahe, Moskau entgegenzukommen. West- und Ost-Berlin standen unter der gemeinsamen Verantwortung der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, wobei die drei Westsektoren freilich eng an die Bundesrepublik gekoppelt waren.
Chruschtschow forderte, alle vier Sektoren in eine „Freistadt“ zu verwandeln. Das hätte das Ende des schützenden Viermächtestatus der Stadt bedeutet und dazu geführt, dass die DDR sie schnell geschluckt hätte. Da machte Kennedy aber nicht mit. Daraufhin erlaubte Chruschtschow seinem Vasallen Ulbricht, West-Berlin einzumauern.
Stacheldraht vor der Kirchentür
Ich traf mittags auf dem Flughafen Tempelhof ein und fuhr in einem Leihwagen gleich zur Bernauer Straße im französischen Sektor, weil es dort am heißesten zuging. Die evangelische Versöhnungskirche lag an der Ost-Berliner Seite dieser Straße. DDR-Soldaten verlegten vor ihrem Eingang Stacheldraht, dem bald die Mauer folgen sollte; 1985 wurde die Kirche gesprengt. Die Wohnhäuser entlang des südlichen Bürgersteigs der Bernauer Straße gehörten zum Sowjetsektor.
Ich sah, wie DDR-Betriebskampfgruppen ihre Türen und die Fenster der unteren Etagen zumauerten. Aus den oberen Stockwerken stürzten sich alsbald Mieter in Netze, die West-Berliner Feuerwehrleute für sie bereithielten. Am 22. August sprang die 59 Jahre alte Krankenschwester Ida Siekmann aus dem dritten Stock des Hauses Nummer 48, verfehlte ihr Ziel, prallte auf dem Beton auf und starb auf dem Transport ins Lazarus-Krankenhaus. Sie wurde das erste von 120 Todesopfern des Mauerbaus.
Als ein junger Mann im Todesstreifen verblutete
Mit meinem bundesdeutschen Personalausweis durfte ich zwischen West- und Ost-Berlin pendeln und Menschen auf beiden Seiten interviewen. Sie waren alle enttäuscht über die Supermacht USA, die Ulbricht gewähren ließ. Ihr Zorn steigerte sich zur Wut, als ein Jahr später der Maurer Peter Fechter, von einem Volksarmisten angeschossen, im Todesstreifen verblutete. Laut forderten West-Berliner Augenzeugen eine amerikanische Patrouille auf, dem vor Schmerzen schreienden jungen Mann zu helfen. Ihr Leutnant bat den US-Stadt-kommandanten, Generalmajor Walter Watson II., ihm dies zu gestatten, aber Watson verbot ihm dies mit den Worten: „Sie haben Ihre Befehle!“
Dann feuerte das französische Maschinengewehr
An der Bernauer Straße verhielten sich die Franzosen anders. Kurz nach meiner Ankunft in Berlin wurde ich dort Zeuge einer dramatischen Szene: DDR-Soldaten feuerten auf eine mehrköpfige Familie, die sich anschickte zu flüchten. Da fuhr ein französischer Jeep mit aufgebautem Maschinengewehr vor. Ein Leutnant ließ das MG in die Luft schießen und rief den Volksarmisten zu: „Wenn ihr das Feuer nicht umgehend einstellt, lasse ich mein MG direkt auf euch richten!“ Die DDR-Grenzer hielten inne, und der französische Offizier ließ die Flüchtlinge ins Notaufnahmelager Marienfelde bringen. Die deutschen Zuschauer applaudierten.
Sowjetische Panzer rollten an
Wenige Tage nach meiner Ankunft in West-Berlin klingelte es früh am Morgen in meinem Hotelzimmer. Ich hörte eine Frauenstimme, die durch einen Nylonstrumpf auf der Telefonmuschel entstellt war, ahnte jedoch, wem sie gehörte: Bei der letzten Leipziger Frühjahrsmesse, über die ich für die AP berichtete, hatte ich mich mit einer schönen Frau angefreundet, die für das DDR-Außenhandelsministerium arbeitete, aber das SED-Regime hasste. Jetzt nannte sie mir eine Stelle am Ufer des Müggelsees, wo ich sie am frühen Freitagabend treffen sollte.
Ich fuhr hin und fragte sie: „Woher weißt du, wo ich bin?“ Sie erzählte mir, dass sie in ihrer Dienststelle West-Berliner Zeitungen beziehe und in ihnen meine AP-Reportagen über die Mauer gelesen habe. Sie gab mir wertvolle Informationen über die Stimmung im Ministerium und in ihrer Familie.
Fortan gaben wir uns an jedem Freitag an verschiedenen Stellen des Müggelsees ein Stelldichein. An meinem 25. Geburtstag, dem 25. Oktober 1961, einem Mittwoch, überraschte sie mich um drei Uhr früh mit dem kürzesten ihrer Anrufe. Sie sagte nur: „Kronprinzenpalais“ und hing auf. Um sieben Uhr, als der Grenzübergang für Westdeutsche an der Heinrich-Heine-Straße geöffnet wurde, eilte ich zu diesem Gebäude im Ostsektor. Ich sah, wie Rotarmisten Telefonkabel verlegten; bislang hatte die Rote Armee in der Berlin-Krise nicht eingegriffen. Nun aber rollten sowjetische Panzer ohne Hoheitskennzeichen an.
Ich fuhr zurück zum AP-Büro in der Fasanenstraße, Ecke Kurfürstendamm in West-Berlin und rief meine Informanten bei der US-Kommandantur und im Rathaus Schöneberg an. Ihre Prognose lautete übereinstimmend: „Das wird zu einer amerikanisch-sowjetischen Konfrontation führen.“ So kam es auch: Am 27. Oktober richteten am „Checkpoint Charlie“ in der Friedrichstraße amerikanische und sowjetische Tanks ihre Geschützrohre aufeinander. Die Gefahr eines heißen Krieges wurde noch akuter.
Von Stasi-Offizieren gegrillt
An jenem Abend wollte ich mich wieder mit meiner Freundin am Müggelsee treffen, wurde aber am Übergang Heinrich-Heine-Straße gestoppt, in einen Verhörraum komplimentiert und dort stundenlang von Stasi-Offizieren gegrillt. Sie wollten wissen, auf welchem Wege ich zwei Tage zuvor so früh vom Aufmarsch sowjetischer Panzer so nahe an der Sektorengrenze erfahren hatte. Ich verriet es ihnen nicht. Ich sagte ihnen: „Gleich muss ich in mein Büro in der Fasanenstraße. Dort wissen meine Kollegen, wo ich bin. Wenn ich nicht pünktlich um acht Uhr zum Dienst komme, wird die US-Kommandantur alarmiert, denn ihr untersteht die AP. Dann wird es zu einem internationalen Eklat kommen, ausgelöst von Ihnen!“
Ich wusste zu diesem Zeitpunkt, dass beide Seiten inzwischen bemüht waren, den Konflikt auf diplomatischem Wege abzumildern und die Panzer von der Sektorengrenze abzuziehen. Da ließen die Stasi-Leute mich gehen.
Aus der Heimat verbannt
Einige Wochen später rief mich meine Mutter aus Frankfurt an. Sie hatte von Omi, meiner Großmutter, die in einem Kuchen versteckte Warnung erhalten, dass ich nicht wieder in die DDR reisen sollte, denn dort würde ich auf der Stelle festgenommen und wegen Hochverrats vor Gericht gestellt werden. Als ich sie Jahre später fragte, woher sie diese Information gehabt habe, sagte sie mir: „Von einer benachbarten Volksanwältin (Staatsanwältin), die es gut mit mir meinte.“
Damit war ich de facto auf Jahre hinaus aus meiner Heimatstadt Leipzig verbannt. Ich verließ West-Berlin und die Associated Press im Dezember 1961, um meine neue Stelle als Korrespondent des Axel-Springer-Verlages in London anzutreten, aber der „Abgrund“, von dem der US-Botschafter in Wien gesprochen hatte, blieb mir vor Augen. Am 25. Oktober 1962, meinem 26. Geburtstag, wurde ich von heute auf morgen nach New York versetzt, weil Chruschtschow Atomraketen auf Kuba stationiert hatte und nun ein nuklearer Schlagabtausch drohte.
Das wäre eine Fortsetzung der Berlin-Krise gewesen. Aber er unterschätzte den „Knaben mit kurzen Hosen“: Kennedy starrte den Kremlchef nieder und zwang ihn zum Abzug seiner Raketen. Über den letzten Akt dieses Weltendramas berichtete ich ein Jahr später aus Dallas, wo am 22. November 1962 der Kommunist Lee Harvey Oswald den Präsidenten Kennedy erschoss.
Haben die Sowjets Kennedy ermordet?
Ich weiß, dass ich mich jetzt wie so viele andere, die über dieses Thema geschrieben hatten, in den Bereich der Spekulation vorwage. Aber Oswald hatte sich kurz zuvor mit kubanischen Geheimdienstoffizieren in Mexiko getroffen. Dass er kurz nach seiner Festnahme in Dallas von Jack Ruby, dem Wirt einer Striptease-Kneipe, erschossen wurde, hatte nichts mit einer Konspiration zu tun, sondern mit einem jener bizarren Nebenereignisse, die ein amerikanisches Spezifikum zu sein scheinen.
Ich hatte Rubys Mordprozess als Reporter wahrgenommen und viele Zeugen interviewt. Dabei wurde mir klar, dass er sich nur wichtigtun wollte. Aber die Rolle Kubas und damit der Sowjetunion beim Kennedy-Attentat wird heute noch totgeschwiegen. Hinweise darauf wurden aus dem 800-seitigen Bericht der „Warren-Kommission“, die diese Tragödie bis ins kleinste Detail untersuchte, herauseditiert.
Warum wohl? Nun, die Nachricht, dass Chruschtschow oder Fidel Castro den Mord am Staatsoberhaupt des mächtigsten Landes der Welt befohlen hatten, wäre ein Casus Belli gewesen, ein Kriegsgrund. Da war es besser zu schweigen. Der Abgrund wurde der Welt bis auf weiteres erspart.
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