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Kommentar

Wenn die Bibel Gottes Wort ist …

05.01.2016

Im entscheidenden Punkt sind sich Diener und Parzany einig: Die Bibel ist Gottes Wort. Nicht einig sind sie sich in manchen Konsequenzen. Beispiel Homosexualität. Für beide gibt es in der Bibel keine Stelle, die für eine Segnung homosexueller Paare sprechen könnte. Parzany vertritt die bisher gültige evangelikale Ansicht, dass praktizierte Homosexualität aufgrund des biblischen Zeugnisses als Sünde abgelehnt werden müsse. Diener betont, dass er persönlich zwar eine konservative Einstellung habe, aber man auch „andere Auslegungen der Heiligen Schrift in dieser Frage stehen lassen“ sollte. Auf die Frage, ob praktizierende Homosexuelle in einer evangelikalen Gemeinde auch Mitarbeiter sein könnten, antwortete er in Pro: „Wenn Menschen diese Frage für sich geistlich geklärt haben und der Meinung sind, dass die biblischen Aussagen über Homosexualität ihre Lebenssituation nicht treffen, dann sollten wir es möglich machen, dass sie bei uns angenommen sind, dass sie bei uns mitarbeiten können. Ich habe aber im Kontext der Gemeinschaftsbewegung auch gesagt, dass ich der Überzeugung bin, dass dies bei uns nicht immer umsetzbar ist. Aber mein Wunsch wäre es.“

Es geht um die Zuverlässigkeit der Bibel

Ein Kommentar von Rolf Hille

„Warte ab, in 20 Jahren werden die Evangelikalen, wie die EKD, homosexuelle Praxis in der Kirche bejahen“, sagte ein Kollege in den 90er Jahren zu mir. Damals wies ich die Vorstellung als absurd zurück. Heute sind wir so weit. Die Wellen gehen hoch, und die Unsicherheit wächst. Die Evangelische Allianz legt ihren Schwerpunkt auf die Gemeinschaft der Gläubigen. Wer ein persönliches Verhältnis zu Jesus Christus hat, ist willkommen. Aber die Evangelische Allianz ist nicht nur eine Gemeinschaft der Glaubenden, sondern auch eine Gemeinschaft des Glaubens. Sie ist inhaltlich durch die „Glaubensbasis“ verbunden. Sonst wäre sie nur ein emotionaler religiöser Verein. In ihrer Glaubensbasis bekennt sie sich gut reformatorisch zur ganzen Heiligen Schrift als Grundlage für alle dogmatischen und ethischen Urteile.

Wie gehen wir mit Homosexualität um

Im Blick auf das Thema Homosexualität ergeben sich daraus drei elementare Perspektiven:1. Bei der Frage nach homosexuellen und lesbischen Beziehungen geht es zuerst und vor allem um das christliche Menschenbild. Worin gründet die Gottesebenbildlichkeit des Menschen? Sie ist in der Liebes- und Kommunikationsfähigkeit zwischen Mann und Frau verankert: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau“ (1. Mose 1,27). Die Polarität zwischen Mann und Frau spiegelt also etwas von der Beziehung des dreieinigen Gottes wider. Sexualethische Normen haben im Christentum eine tiefe theologische Verankerung. Die Liebe und Treue zwischen Mann und Frau stellt nach Epheser 5,31-32 bildhaft die Beziehung zwischen Christus und seiner Gemeinde dar.

Wir gründen Familie

2. Zum Konzept der Ehe gehört ferner die Bereitschaft, eine Familie zu gründen, und willens zu sein, für eine künftige Generation Verantwortung zu übernehmen. In Römer 1,20-27 entwickelt Paulus seine Argumentation in unmittelbarer Anlehnung an die oben genannte Schöpfungserzählung. Er lehnt den homosexuellen Geschlechtsverkehr genauso grundsätzlich und ausnahmslos ab wie den Götzendienst.

Das ist nicht gut so

Der Apostel positioniert sich damit gegen die hellenistische Kultur, in der ähnlich wie heute homophile Praxis geradezu idealisiert wurde; frei nach dem Motto: „Ich bin schwul, und das ist gut so.“

Das klare Gebot

3. In Geltung steht schließlich das klare Gebot: „Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau“ (3. Mose 18,26). Zwar sind die alttestamentlichen Speisegebote und rituellen Vorschriften für die christliche Gemeinde aufgehoben, aber im Blick auf die Sexualethik heißt es in den Beschlüssen des Apostelkonzils: „Dass ihr [Christen] euch enthaltet … von der Unzucht“ (Apostelgeschichte 15,29). Der Begriff Unzucht umfasst hier Ehebruch, Inzest, Homosexualität etc.

Wort Gottes oder archaische Vorstellungen?

Nun reagieren Menschen recht unterschiedlich auf diesen biblischen Befund. Die einen sehen darin die klare und verbindliche Offenbarung des Willens Gottes. Andere nehmen das Wort der Bibel zwar zur Kenntnis, widersprechen ihm aber. Für sie beruhen die einschlägigen Textstellen auf archaischen Vorstellungen, die heute nicht mehr gelten. Doch zu dem eindeutigen Entweder-Oder fügen inzwischen postmoderne Theologen noch eine weitere Variante hinzu. Sie behaupten, man müsse Menschen anerkennen, die beim Thema Homophilie die Bibel anders lesen. Man wird schwerlich etwas anderes lesen können, wenn nichts anderes geschrieben steht. Hierzu müsste man schon einen neuen Text erfinden. Stattdessen verlässt man sich auf Gefühle und stellt fest, dass es Pfarrerinnen und Pfarrer gibt, „die ihre Homosexualität geistlich für sich geklärt haben und sich von Gott nicht zur Aufgabe dieser Prägung aufgefordert sehen“.

Das Ende aller Verbindlichkeit

Wenn man das postmoderne Konzept nüchtern betrachtet, dann bezieht es sich auf Menschen, mit denen Gott offensichtlich eine Art Geheimabsprache hinter dem Rücken der Apostel und Propheten getroffen hat. Bleibt man konsequent bei diesem Auslegungsmuster, dann muss man im Prinzip bei jedem Bibeltext bedenken, dass der Wortlaut in sich zwar eindeutig sein kann, dass man aber dennoch damit rechnen muss, dass Gott mit einzelnen Christen eine anderslautende Nebenabsprache getroffen hat. Diese würde dann das genaue Gegenteil dessen behaupten, was Gott durch sein geschriebenes Wort zuvor verkündigt hat. Damit ist dann das Ende aller theologischen Verbindlichkeit gekommen.

Andere Kirchen sind beunruhigt

Viele sagen, die Evangelische Allianz dürfe nicht wegen Lehrdifferenzen in Sachen Homosexualität auseinanderbrechen. Aber hier geht es um weit mehr. Es geht umfassend um die Zuverlässigkeit der Bibel. Papier ist geduldig, und wenn man liest, was da steht, aber gleichzeitig gewärtig sein muss, dass auch das pure Gegenteil richtig sein könnte, dann ist die inhaltliche Gemeinschaft des Glaubens aufgekündigt. Dies gilt übrigens nicht nur innerhalb der evangelikalen Bewegung, sondern betrifft die Überzeugung aller Kirchen durch die Jahrhunderte. Besonders die römisch-katholische Kirche und die orthodoxen Kirchen sind über die ethische Auflösung im Protestantismus zutiefst beunruhigt. Entsprechendes gilt auch für die vielen wachsenden Kirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika.

Wie gehen wir mit falscher Lehre um?

Die Gemeinschaft der Glaubenden ist durch den Lehrdissens allerdings noch nicht beendet. Vielmehr gilt hinsichtlich falscher Lehre und Praxis die apostolische Mahnung: „Wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist“ (Galater 6,1). Es gilt also beides: die biblische Lehre als Fundament der Wahrheit festzuhalten und gleichzeitig die seelsorgerische Verantwortung füreinander zu tragen. Nur in dem Wissen, dass wir alle als Sünder von der Barmherzigkeit Gottes leben, können wir anderen wirklich dienen. Seelsorge ist allerdings nur dann möglich, wenn der oder die Betroffene Erkenntnis der Sünde hat und wirklich Vergebung sucht.

Beides gehört zusammen

Leider wird oft in der Debatte um die Homosexualität bewusst alles durcheinandergeworfen. Man spielt die ethische Wahrheitsfrage gegen die seelsorgerische Liebe aus. Beides gehört jedoch zusammen. Wer anderen nicht mit „sanftmütigem Geist“ zurechthilft, verletzt die Liebe; wer ihnen die Eindeutigkeit der Bibel verschweigt, enthält ihnen die Wahrheit vor.(Der Autor, Pfarrer Rolf Hille (Heilbronn), ist Professor an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen. Er war von 1994 bis 2000 Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz und von 1993 bis 2013 Vorsitzender des Arbeitskreises für evangelikale Theologie. Von 1995 bis 2009 ist er Rektor des Albrecht-Bengel-Hauses in Tübingen gewesen.)

Die Sexualität darf uns als Christen nicht trennen!

Ein Kommentar von Alexander Garth

Über das Wiener Burgtheater erzählt man sich folgende Geschichte. Mitten im Stück hatte ein Schauspieler plötzlich einen Texthänger. Er wusste nicht weiter. Die Souffleuse flüsterte ihm die nächste Textzeile zu. Nichts geschah. Der Schauspieler starrte schweigend vor sich hin. Die Souffleuse versuchte es noch einmal, nun etwas lauter. Der Schauspieler blieb stumm. Noch einmal sprach die Souffleuse den Text vor, diesmal noch lauter, und die nächsten zwei Zeilen. Plötzlich wendete sich der Schauspieler zur Souffleuse um und zischte laut: „Keine Details bitte! Das Stück? Welches Stück?“ Und die Kirche? Wie heißt das Stück, das sie spielen soll in dieser Welt? Was ist ihr Auftrag? Das Stück heißt „Evangelium“, und es handelt von der Liebe Gottes zu allen Menschen. Diese Liebe kommt zu uns durch Jesus, den zu unserer Erlösung gekommenen Sohn Gottes. Und dieses Stück handelt von der großen Einladung Gottes, der rettenden Liebe von Jesus zu begegnen.

Rückt ein Randthema in den Mittelpunkt?

Schaut man sich im Lande um, was viele Fromme gerade leidenschaftlich beschäftigt, so gewinnt man den Eindruck, es geht beim christlichen Glauben vor allem um Sexualität: der christliche Glaube als Bewegung für heterosexuelle Partnerschaft. In der Bibel spielen Ehe und Sexualität eine nicht unwichtige Rolle. Aber sind sexuelle Fragen wirklich unser Kerngeschäft, oder rückt hier ein Randthema in den Mittelpunkt? Zwingt uns nicht gerade der vielgescholtene Zeitgeist, das Thema Sexualität zum Punkt Nummer 1 unserer Tagesordnung zu machen, so dass wir dabei das große Ganze aus den Augen verlieren? Könnte es nicht sein, dass der Teufel gerade damit beschäftigt ist, die Kinder des Himmels durch sexuelle Detailfragen zu entzweien? Werden die Christen gerade zur Beute linker Randgruppenverliebtheit? Immerhin sind es gerade mal 2 bis 5 Prozent der Menschen, die homosexuell empfinden.

Was ganz oben steht in der Hierarchie

Es gibt eine Hierarchie von Wahrheiten. Was steht ganz oben? Sicher nicht das Thema Sexualität. Wenn man wissen will, was Gott auf dem Herzen hat für seine Menschheit, dann muss man sich Jesus anschauen: „Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn“ (Hebräer 1,1). Jesus, sein Leben und Wirken ist Gottes letztgültiges Wort. In dem Mann aus Nazareth ist Gott selbst zu uns gekommen, um uns zu erlösen aus der Entfremdung von unserem Schöpfer und von uns selbst. Im Kern geht es also nicht um eine neue Moral, eine neue Weltdeutung oder eine neue Idee von Gott. „Ich bin gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist“, sagt Jesus. Durch ihn tritt Gott aus dem Dunkel und offenbart seinen Heilswillen. Sehr treffend beschreibt Papst Benedikt XVI. das Zentrum des Glaubens: „Es gibt nichts Schöneres, als vom Evangelium, von Christus gefunden zu werden. Es gibt nichts Schöneres, als ihn zu kennen und anderen die Freundschaft mit ihm zu schenken.“ 

Über Homosexualität sagt Jesus nichts

Die Botschaft Jesu ist eine große Herausforderung: Gott über alles zu lieben und die Mitmenschen wie sich selbst, allezeit zu vergeben, mit kindlichem Vertrauen zu Gott zu kommen, sein Herz nicht an Besitz zu hängen, sich nicht um die Zukunft zu sorgen, die Feinde zu lieben, Gott über alle Dinge zu stellen, die Zehn Gebote zu halten. Jesus sprach mehr über Gier und Reichtum als über den Himmel. Und über Homosexualität? Wir finden keinen Hinweis. Man mag einwenden, dass dieses Thema für Jesus so abseitig war, dass er mit keinem Wort darauf einging. Das ist insofern verwunderlich, als dass Homosexualität in seiner Umwelt, der römisch-hellenistischen Antike, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte.

Sind die biblischen Aussagen zeitlos gültig?

Wohl gibt es in der Heiligen Schrift eine Reihe von Stellen, die sich kritisch mit Homosexualität auseinandersetzen. Die Frage, welche diejenigen umtreibt, für die die Bibel normativ ist, lautet: Wie gehen wir mit diesen Stellen angemessen um? Es gibt, grob gesprochen, zwei Lager: Die einen sagen, dass die Zurückweisung homosexueller Lebensweise klar bezeugt ist. Daher muss die Kirche, wenn sie der Bibel folgt, Homosexualität als Sünde ablehnen. Die anderen betonen, dass für die Aussagen der Bibel die kulturellen und geschichtlichen Bedingungen zu berücksichtigen sind, in denen die biblischen Texte entstanden sind. Man kann die Anweisungen der Heiligen Schrift nicht eins zu eins auf unsere Zeit übertragen. Dem stimmen auch sehr konservative Geister zu über Aussagen z. B. zu Krieg, Todesstrafe, Ehescheidung, Reinheitsvorschriften, Sklaverei, Frauen in geistlichen Leitungsämtern usw. Nur in dem Punkt, wie man Homosexualität zu bewerten habe, fordert man die zeitlose Gültigkeit biblischer Aussagen.

In notwendigen Dingen: Einheit – In zweifelhaften: Freiheit

Die unterschiedliche Beurteilung von Homosexualität ist ein Faktum – nicht nur in der gesamten Kirche, auch innerhalb der evangelikalen Bewegung gibt es sich widersprechende Überzeugungen dazu. Und beide Lager haben gute Argumente. Wer hat recht? Augustin (354–430), der Vater abendländischen Christseins, gibt einen weisen Rat: „In den notwendigen Dingen: Einheit, in den zweifelhaften: Freiheit, über allem die Liebe.“ Wir sind uns einig über Jesus, den Sohn Gottes, der für alle gestorben und auferstanden ist, über die Bibel als Gottes Wort, über die Notwendigkeit von Bekehrung und Heiligung des Lebens. Unser Fundament ist der apostolische Glaube, wie er in den altkirchlichen Bekenntnissen formuliert wurde. Aber was ist mit der Beurteilung von Homosexualität? Da gehen die Überzeugungen auseinander. Halten wir das aus? Gehört das zu den Dingen, die zweifelhaft sind? Ja, und das hat Gründe:

Wie lesen wir die Bibel? Meine 7 Thesen

1. Sexualität wird kulturell geformt. Es ist daher schwierig, theologische Aussagen zur sexuellen Orientierung zu machen, die Absolutheit und Zeitlosigkeit beanspruchen. Daher erscheint mir Zurückhaltung geboten in der Fixierung sexueller Normierungen. 2. Jeder bringt für das Verstehen der Bibel ein bestimmtes Vorverständnis mit, das geprägt ist durch die eigene Glaubensgeschichte, Charakter, Erziehung, Bildung und den kulturellen Kontext. Der Fachbegriff lautet Hermeneutik (die Lehre vom Verstehen und Interpretieren von Texten). Nach Martin Luther muss die Bibel von Jesus Christus her gelesen und interpretiert werden, also von dem her, „was Christum treibet“. Wenn heute Theologen bei Hochschätzung derselben Bibel als Gottes offenbartes Wort zu unterschiedlichen Überzeugungen kommen, dann ist das die Folge von verschiedenen hermeneutischen Herangehensweisen an den Text. Und das ist normal. Wer meint, dass die Lektüre der Heiligen Schrift zu einem Ergebnis führen müsse, der übersieht das Gewicht hermeneutischer Vorentscheidungen. Die Kirchengeschichte und die heutige Wirklichkeit lehren uns, dass gleiche Texte unterschiedlich gelesen werden. Darum ist Weite gefragt, nicht Enge, Dialog, nicht orthodoxe Rechthaberei.3. Jesus selbst folgte in der Auslegung der Heiligen Schrift einer Hermeneutik der Gnade. In der Geschichte mit der Ehebrecherin, die auf frischer Tat ertappt wurde (Johannes 8), stellt er das Prinzip Gnade über das Prinzip Strafe, das Prinzip Liebe über das Prinzip Gesetz, wie es bei Mose offenbart ist. Paulus, der tiefsinnige Interpret der Sendung und Botschaft Jesu, hat sich als Theologe, Pharisäer und Apostel den Kopf darüber zerbrochen, wie das Alte Testament im Lichte des Evangeliums gelesen und interpretiert werden kann. Dabei ist er auf einen der genialsten Sätze der gesamten Weltliteratur gekommen. „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2. Korinther 3,6). Das Auslegungsprinzip der Heiligen Schrift ist der Geist Jesu, und das ist ein Geist der Liebe Gottes, die allen Menschen gilt, ein Geist, der zu einem neuen Leben aus der Gnade und Zuwendung Christi befreit. Dort aber, wo man dem Buchstaben folgt, wird Leben verneint. Die Bibel ohne den Geist tötet.4. Immer wieder finden wir Jesus in Gemeinschaft mit Menschen, die keinen guten Ruf haben und die schuldig geworden sind. Er isst und feiert mit ihnen, erzählt ihnen von Gottes suchender Liebe und spricht ihnen die Liebe und Vergebung Gottes zu. Bei religiösen Führern, Huren, Priestern, Handwerkern, Theologen, Zuhältern, Zöllnern (das waren die verhassten Kollaborateure mit den Römern), bei allerlei ehrenwerten und unehrenwerten Leuten ist er ein gerngesehener Gast. Ich kann mir Jesus gut vorstellen in Gemeinschaft mit homosexuell empfindenden Menschen. Er hätte sie weder verachtet noch abgelehnt. 5. Es gibt einen (irgendwie richtigen) Satz, der aber Homosexuelle ins Mark trifft und ablehnt. „Gott liebt den Sünder, aber er hasst die Sünde.“ Sexualität ist zutiefst Teil unserer Identität. Wir sind sexuelle Wesen. Ein Homosexueller kann nicht differenzieren zwischen seinem Menschsein und seiner sexuellen Neigung. Er wird die Ablehnung seiner Homosexualität immer als Ablehnung seiner gesamten Person verstehen. Wer mich wegen meiner eindeutig heterosexuellen Orientierung ablehnen würde, weist mich als Mensch zurück. Sexualität ist nicht ein Teil von mir, sondern gehört zu meiner Identität.6. Entspricht es dem Geist Jesu, wenn sich Christen vor allem durch Negation und Ablehnung definieren? Mich schmerzt es, wenn Christen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden als selbstgerechte, moralisierende, superkonservative Betonköpfe, die sich mit dem Besitz der einen Wahrheit brüsten und auf alle anderen Menschen herabschauen. Eine Ablehnung von Homosexuellen würde der christlichen und evangelikalen Bewegung schaden und unseren Auftrag, das Evangelium unter die Leute zu bringen, unnötig erschweren und behindern. Im Übrigen ist nach meiner Wahrnehmung für die meisten Christen (auch evangelikalen) hier in Berlin das Thema Homosexualität längst durch. Die offene oder latente Ablehnung von Schwulen und Lesben ist aus Berliner Perspektive kaum nachvollziehbar und mutet an wie ein Rückzugsgefecht ins fromme Ghetto. 7. Eine der tiefsten Weisheiten, die wir nie vergessen dürfen, lautet: „Unser Wissen ist Stückwerk“. Die ganze Kirchengeschichte wäre segensvoller und gewaltfreier verlaufen, wenn die Christen diesen Satz des Paulus aus 1. Korinther 13 im Herzen gehabt hätten. Statt Rechthaberei und Arroganz ist Demut gefordert. Auch der rechtgläubigste Christ wird im Himmel („wenn das Vollkommene kommen wird“) erkennen, dass er nur ansatzweise die richtige Theologie gehabt hat. Wir haben in diesem Leben immer nur Teile des Ganzen, Fragmente des Vollkommenen.

Die sexuelle Orientierung entscheidet nicht über das Heil

Die Gefahr für die evangelikale Bewegung in Deutschland besteht nicht darin, dass sie sich für homosexuell empfindende Menschen öffnet, sondern dass sie dem Thema Sexualität eine Priorität einräumt, die sie nicht haben darf. Der Frage der sexuellen Orientierung gebührt kein status confessionis, an dem sich Heil und Unheil entscheiden. Das entscheidet sich allein an Jesus Christus. Wenn die Beurteilung sexueller Orientierung unsere Agenda und Statements dominiert, dann wird uns die Frage der Sexualität entzweien und unseren Auftrag, der Welt Christus zu bezeugen, beschädigen. Das darf um des Evangeliums willen nicht geschehen. Jesus betet, dass wir alle eins sind. Die Einheit besteht in Ihm, nicht in unseren theologischen Erkenntnissen. Aber je näher wir Christus kommen, umso näher kommen wir einander und umso vollmächtiger können wir das kostbare Evangelium in Wort und Tat weitergeben.(Der Autor, Pfarrer Alexander Garth, gründete 1999 die Junge Kirche Berlin, eine Gemeinde der Evangelischen Kirche (EKBO) im Osten Berlins, und arbeitete als Bereichsleiter in der Berliner Stadtmission. In diesem Jahr übernimmt er eine neue Aufgabe als Berater und Initiator neuer Projekte in der Evangelischen Kirche. Garth lebt mit seiner Familie in Berlin.)

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