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Prof. Thomas: In den Kirchenleitungen liegen die Nerven blank

21.07.2020

Der Professor für Systematische Theologie, Ethik und Fundamentaltheologie an der Ruhr-Universität Bochum, Günter Thomas. Foto: Marquard
Der Professor für Systematische Theologie, Ethik und Fundamentaltheologie an der Ruhr-Universität Bochum, Günter Thomas. Foto: Marquard

Berlin/Bochum (idea) – In den evangelischen Kirchenleitungen liegen wegen der zurückgehenden Mitgliederzahlen und des erwarteten Rückgangs bei den Kirchensteuereinnahmen die Nerven blank. Davon ist der Professor für Systematische Theologie, Ethik und Fundamentaltheologie an der Ruhr-Universität Bochum, Günter Thomas, überzeugt. Jetzt begännen die Verteilungskämpfe, schreibt er in der evangelischen Zeitschrift „zeitzeichen“ (Berlin). Hintergrund für den Beitrag von Thomas ist das im Juni veröffentlichte Zukunftspapier „Kirche auf gutem Grund – Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“. Erstellt hat es eine 2017 von der EKD-Synode berufene Arbeitsgruppe. Das Papier soll in den nächsten Monaten von verschiedenen Gremien und Kirchenmitgliedern diskutiert und weiterentwickelt werden. Mehrere offene Baustellen werden Thomas zufolge in den Leitsätzen der Arbeitsgruppe allerdings „nur indirekt thematisiert, zum Teil nur touchiert, zum Teil aber auch laut beschwiegen“.

Was gewinnt jemand, wenn er getauft wird?

Eine Baustelle sei die Bedeutung der Kirchenmitgliedschaft. Im letzten Jahrhundert habe, so Thomas, der liberale Protestantismus der westlichen Gesellschaften ein einzigartiges theologisches Experiment durchgeführt. Es gehe dabei um die Frage, wie es sich als Kirche lebe, wenn die organisatorische Grenze der Kirche nicht mehr die „Grenze des Heils“ sei. Heil und Unheil trenne nicht mehr die Kirche von der Welt. Thomas: „Ganz entsprechend ist theologisch weithin unklar, was jemand gewinnt, wenn er getauft wird, und was er verliert, wenn er aus der Kirche austritt und die Mitgliedschaft ablegt. Dies ist im Kern das theologische Problem der schon lange schwelenden Mitgliedschaftskrise.“ Diese Ausgangslage müsse dringend als Problem anerkannt und theologisch bearbeitet werden.

Thomas: Die Kirche hat nichts zu bieten, was nicht auch andere Akteure leisten können

Die Überlegungen zum Thema Mission in dem Zukunftspapier der Arbeitsgruppe legten ferner offen, dass es den Verfassern im Kern „um eine Ethik geht, wenn es ihnen um Glauben geht“, also um den Einsatz „für die Schwachen, Ausgegrenzten, Verletzten und Bedrohten“. Diese Ausrichtung zeige, dass die Kirche nichts zu bieten habe, was „nicht auch irgendwelche anderen sozialmoralischen und politischen Akteure zu bieten haben“.

Was für eine selbstkritische Kirche produktiv wäre

Dies reiche aber, so Thomas, am Markt der Aufmerksamkeit nicht aus: „Auf diesem Markt könnte es für eine selbstkritische Kirche gerade umgekehrt produktiv sein, zu fragen, wofür sie keine Partner findet.“ Wenn ein sozial-politisches Programm vertreten werde, das sich weitgehend mit dem Programm möglicher Bündnispartner deckt, dann entfalle jeder Grund, wirklich in der Kirche zu sein. Es gebe somit kein Alleinstellungsmerkmal mehr.

Eine zentrale Frage wird in den Leitsätzen „präzise vermieden“

Wie Thomas weiter schreibt, muss künftig die Frage „Woher kommen eigentlich die Christenmenschen?“ im Vordergrund stehen. Sie werde aber in den elf Leitsätzen „äußerst präzise vermieden“. Kritisch äußerte sich Thomas ferner zur Aussage des EKD-Ratsvorsitzenden, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm (München), der dazu aufgerufen hatte, die „ehrlichen Mitgliedszahlen“ zu bejahen. Es sei, so Thomas, eine „schönfärbende Annahme“, dass sich in der Kirche allmählich ein essentieller Bodensatz in der als Läuterung begriffenen Abwärtsbewegung bilde: „Die von einst 64 Prozent bis aktuell etwa neun Prozent Bevölkerungsanteil Protestanten reichende Abwärtsbewegung in den Niederlanden spricht eine deutliche Sprache. Die Vorstellung, die Kirche könne sich sozusagen entspannt gesundschrumpfen, entbehrt jeder Evidenz.“

Auch die stillen Kirchensteuer-Zahler würdigen

Thomas ruft dazu auf, auch die in der Kirche „still Beteiligten“ zu würdigen: „Jeder still bezahlte Cent an sogenannter Kirchensteuer durch getaufte Christen ist bis zum Beweis des Gegenteils ein Akt der theologisch und organisatorisch zu würdigenden Mitarbeit an der Kirche Jesu Christi.“ Ohne eine spirituell-theologische Deutung der Mitgliedschaft werde sich der Exodus nicht aufhalten lassen. Bei dem Beitrag von Thomas handelt es sich um den ersten Teil. Der zweite soll am 27. Juli veröffentlicht werden.

Das Christliche Medienmagazin pro sieht in dem Papier „mutige Perspektiven“

Das Christliche Medienmagazin pro (Wetzlar) hatte zuvor im Gegensatz zu Thomas die in dem Zukunftspapier der EKD skizzierten Ansätze in einem Kommentar als „vielversprechend“ bezeichnet. Der Charakter des Papiers spiegele den Ernst der Lage wider, ohne dabei mutlos zu wirken. Aus einem realistischen nüchternen Blick auf die Entwicklung folgten „zuversichtliche und mutige Perspektiven“, wie die Kirche sich auf die neue Situation einstellen und sie gestalten wolle: „Und in manchen Punkten überraschen die Autoren regelrecht damit, wie beweglich sie sich die Kirche der Zukunft vorstellen.“

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