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Bericht

Von einem, der den Atomkrieg verhinderte

29.09.2023

Oberstleutnant Stanislaw Petrow in seiner Wohnung (1999). Foto: Mauritius
Oberstleutnant Stanislaw Petrow in seiner Wohnung (1999). Foto: Mauritius

Am 26. September war der zehnte von der UN-Vollversammlung ausgerufene Internationale Tag für die vollständige Abschaffung von Atomwaffen. Warum dieses Datum? Das erklären Malte Heine und Prof. Rolf Wischnath.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen am 21. September 2016.

26. September 1983: Vor 40 Jahren spielt sich ein Vorgang ab, der ohne Beispiel ist: in der Hauptrolle Stanislaw Petrow, Jahrgang 1939. Tatort ist Serpuchow-15, ein „Dorf“ in der Nähe Moskaus. Dort ist in Bunkern das sowjetische Raketen-Frühwarnsystem untergebracht. Petrow ist Oberstleutnant der Sowjetischen Luftwaffe. Seine Aufgabe: die Überwachung des sowjetischen Luftraums per Satellit und Computer zu leiten.

Zu seinen Pflichten gehört es, möglichst früh und absolut fehlerfrei einen jederzeit denkbaren Raketenangriff des Westens festzustellen. Die Nachricht davon muss dann unverzüglich weitergeleitet werden an die politische Führung mit dem Generalsekretär Juri Andropow an der Spitze. Dieser hätte dann den sowjetischen Gegenangriff zu befehlen. Das Ganze muss innerhalb von 15 bis 20 Minuten ablaufen. So lange dauert es, bis Raketen aus den USA in Moskau einschlagen.

Ein wahnsinniger Tag

Was am 26. September 1983 passiert, berichtet Petrow so: „Der Alarm ging gegen 0:15 Uhr los, vollkommen unerwartet. Wir hatten das oft geprobt, aber nun war es ernst. Die ganze ‚Festbeleuchtung‘ ging an, die Sirenen heulten, und auf den Bildschirmen blinkte in großen, roten, kyrillischen Buchstaben: ‚Raketenstart mit maximaler Wahrscheinlichkeit‘. Es war ein Schock, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich war der Diensthabende, der Älteste und vom Dienstgrad her Ranghöchste, die anderen waren jüngere Offiziere, die dafür zuständig waren, die Raketen scharf zu machen. Sie waren ganz durcheinander geraten und blickten mich an. Alle warteten auf meine Entscheidung.“

Petrow gelingt es, sich zu fassen und seinen Verstand auszurichten: Ein US-Atomangriff auf die Sowjetunion würde nicht mit einer einzelnen Rakete beginnen, sondern mit einer Unmenge. Er telefoniert mit dem Generalstab. Noch während des Gesprächs „meldete der Computer einen zweiten Raketenstart und dann einen dritten, vierten und fünften“.

In einem solchen Fall bleiben nur wenige Minuten, um die Flugkörper zweifelsfrei zu identifizieren. Danach muss unbedingt Andropow informiert werden. Wenn der sich zum Abwehrschlag entschließt, sind sieben Minuten später ein ganzes Rudel sowjetischer Interkontinental-Raketen des Typs SS-18 unterwegs in Richtung Washington, New York und diverser US-Militärbasen in Europa – insbesondere nach Westdeutschland.

Beinah wäre es zu einem Atromschlag gekommen. Foto: pixabay.com

Petrow verweigert den Befehl

Petrow riskiert Kopf und Kragen und verweigert den Befehl zur Information Andropows. Er geht von einem Irrtum aus und wird bestätigt. Es war ein Fehlalarm. Die Untersuchungen ergeben: Ein sowjetischer Weltraumsatellit hielt Reflexionen von Sonnenstrahlen in der Gegend einer US-Raketenbasis in Montana für den Schweif einer startenden Rakete.

Alkoholkrank, seelisch und körperlich versehrt

Stanislaw Petrows Tat – besser: sein Unterlassen – bleibt zu Zeiten des sowjetischen Sozialismus unbekannt. Für ihn und die Zeugen wird ein strenges Schweigegebot erlassen. Petrow wird weder gewürdigt noch bestraft. Aber seit seinem eigenmächtigen Handeln gilt er nicht mehr als zuverlässiger Offizier. Seine Karriere endet, indem er auf einen bedeutungslosen Posten versetzt wird. Heute lebt er alkoholkrank, seelisch und körperlich versehrt in der Nähe von Moskau.

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„Das hing vom lieben Gott ab“

Stanislaw Petrow trat an jenem 26. September seinen Dienst in Vertretung eines erkrankten Kollegen an. Hätte dieser kein Fieber gehabt, hätte anstelle Petrows ein anderer die Wache schieben müssen. Zufall? Fügung? Eine Arbeitsgruppe des sowjetischen Militärs untersucht im Winter 83/84 die Ursachen jenes Fehlalarms. Petrow muss immer wieder auf dieselben Fragen antworten.

Der Leiter der Arbeitsgruppe reizt ihn so sehr, dass er nur noch ein „Das hing vom lieben Gott ab“ hervorbringen kann. Petrow erinnert sich: „Nun wurde er wütend wie ein Stier, begann mit den Füßen zu trampeln und sagte: ‚Was soll das denn heißen?‘ Wir waren ja ein atheistisches Land. Aber ich entgegnete ihm: ‚Andere Informationen habe ich nicht.‘ “

Malte Heine ist Theologe und Rolf Wischnath Honorarprofessor an der Universität Paderborn.

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