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Kommentar

Noch ist eine Spaltung abwendbar

25.01.2016

So etwas gab es lange nicht: Weltliche Medien vom Deutschlandfunk bis zu „Die Welt“, „Frankfurter Allgemeine“ und anderen beschäftigen sich mit der evangelikalen Bewegung, und das (ob nun echt oder gespielt) gar sorgenvoll. Die „Zeit“ in ihrer Beilage „Christ und Welt“: „Die evangelikale Bewegung zerlegt sich: Die einen gehen auf Schmusekurs mit der Amtskirche, die anderen halten eine Annäherung schon für einen Sündenfall. Steht der Protestantismus vor einer neuen Spaltung?“ Allenthalben herrscht Verwirrung, scheint doch das, was man bisher für evangelikal hielt, auf den Kopf gestellt zu sein. Bisher galten Evangelikale bei ihren Kritikern als homo- und islamophob und als Gegner vieler volkskirchlicher Tendenzen. Das stimmt zwar nur in Einzelfällen, wurde aber trotzdem stets wiederholt. Umso größer war das Aufsehen, als im August der Vorsitzende des größten evangelikalen Dachverbandes, der Deutschen Evangelischen Allianz, Michael Diener, den Entschluss des EKD-Ratsvorsitzenden, Heinrich Bedford-Strohm, im Kuratorium des Islam-Zentrums in München mitzuwirken, gegen heftige evangelikale Kritik verteidigte. Auch ließ sich Diener im November in die Leitung der EKD, den Rat, wählen. Am meisten Aufregung aber verursachte, dass er im Dezember unter anderem wünschte, Christen, die ihre Homosexualität praktizieren, sollten auch Mitarbeiter in evangelikalen Gemeinden und Gemeinschaften sein können, selbst wenn er – im Hauptamt Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes – persönlich hier eine konservative Position habe.

Die Verbände reagieren unterschiedlich

Das alles kam für viele einer Revolution gleich. Entsprechend jubelten einige Landeskirchenleiter und hauten Evangelikalen die Argumente Dieners um die Ohren nach dem Motto: „Wie könnt ihr jetzt noch gegen Homo-Trauungen sein!“. So wurden Dieners Aussagen bereits auf der rheinischen Synode und in der Lippischen Landeskirche instrumentalisiert. Entsprechend groß ist der Frust in weiten Teilen des evangelikalen Lagers. Ihr bekanntester Pfarrer, Ulrich Parzany, konterte denn auch Diener in einem Offenen Brief, der große Verbreitung fand. Daraufhin sprach der Gnadauer Vorstand seinem Präses Diener uneingeschränkt sein „volles Vertrauen“ aus. Die von einem Kommunikationsexperten formulierte Stellungnahme soll aber nicht – wie idea mitgeteilt wurde – von allen Vorstandsmitgliedern gebilligt worden sein. Der geschäftsführende Vorstand der Allianz stellte sich ebenfalls hinter seinen Vorsitzenden, lobte ihn für viele Aktivitäten, widersprach jedoch im Gegensatz zum Gnadauer Vorstand seinen Ansichten zur Homosexualität.

Das neue Netzwerk: Wir sind „die Mitte“

Ermutigt durch viel Zustimmung zu seiner Kritik an Diener, ging der einstige CVJM-Generalsekretär Parzany in die Offensive und lud etwa ein Drittel derer, die ihm zustimmend geantwortet hatten, für den 23. Januar nach Kassel ein. Mehr konnten aus Platzgründen nicht kommen. Viele der 65 dort versammelten evangelikalen Repräsentanten aus Landes- und Freikirchen waren der Meinung: Wenn es nicht zu einer eindeutigen Kurskorrektur Dieners kommt, sollte er zurücktreten, oder die schon beginnende Spaltung der evangelikalen Bewegung nimmt ihren Lauf. Zunächst bildete man jedenfalls ein „Netzwerk Bibel und Bekenntnis“. Es beruft sich theologisch vor allem auf die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz. Damit will man signalisieren: Wir stehen nicht am Rande des evangelikalen Spektrums, sondern in der Mitte, eben auf ihrem theologischen Fundament. Unter den Teilnehmern in Kassel sind auch mehrere Mitglieder des Hauptvorstandes der Allianz und leitende „Gnadauer“ gewesen. Parzany schaffte es in einer nur drei Stunden währenden Debatte, dass vom Brüdergemeindler bis hin zum Super-Lutheraner alle einem umfassenden Kommuniqué zustimmten. Eine Art „Vorstand“ vereint Gnadau wie Allianz und Luthertum mit Prof. Rolf Hille (ehemaliger Allianzvorsitzender), Dirk Scheuermann (Vorsitzender des Westfälischen Gemeinschaftsverbandes), Rolf Sons (Bengel-Haus-Rektor), Schwester Heidi Butzkamm (Diakonie) und Ulrich Rüß (Bekennende Gemeinschaften). Sowohl die Eindeutigkeit im Kommuniqué, Irrlehren zu wehren, als auch die Bereitschaft zum Gespräch mit Allianz und Gnadau zeigen: Noch ist ein völliger Bruch abwendbar.

Was unter Evangelikalen schon lange schwelte

Bei der ganzen Auseinandersetzung darf nicht übersehen werden: Präses Diener hat ausgesprochen, was schon lange unter Pietisten, Charismatikern, Bekenntnistreuen schwelte. Für alle ist die Bibel zwar irgendwie noch Wort Gottes, doch darüber, was das konkret heute bedeutet, ist man oft uneins. Dabei geht es nicht um einen Streit unter Volkskirchlern allein. Die Freikirchen haben in den letzten Jahren in unterschiedlichem Tempo den Landeskirchen vieles nachgemacht, was aus evangelikaler Sicht bedenklich erscheint. Der Leiter der größten deutschen Baptistengemeinde, Heiner Rust (Braunschweig), ist einer der Ersten gewesen, der sich für Dieners Sicht aussprach. Es handelt sich auch nicht um eine Debatte Jung gegen Alt. Es haben sich zahlreiche junge evangelikale Theologen pro Parzany gemeldet wie ältere als Diener-Fans gezeigt – und umgekehrt. Die Dozenten der größten pietistischen Studieneinrichtung, des Albrecht-Bengel-Hauses in Tübingen, solidarisierten sich mit Parzany, mehrere den Evangelikalen nahestehende Theologieprofessoren mit Diener. Aufseiten Gnadaus ist bislang aus dem sächsischen, westfälischen und Siegerland-Wittgensteinschen Gemeinschaftsverband wie aus der Evangelischen Gesellschaft Kritik an Dieners Vorgehen zu hören, andererseits hat sich der Direktor der Evangelistenschule Johanneum, Burkhard Weber (Wuppertal), ebenso pro Diener geäußert wie der Verbandspfarrer des Evangelischen Gemeinschaftsverbandes Herborn, Eberhard Hoppe. Der Leiter des EKD-Zentrums für Mission in der Region, Pfarrer Hans-Hermann Pompe (Wuppertal), appellierte in einem Schreiben an die Vorstände von Allianz und Gnadau, „sich mit aller Kraft hinter Michael Diener zu stellen“. Er sei einer „der wenigen Brückenbauer, die zusammenhalten, was sonst auseinander- oder gegeneinanderstreben würde“. Den Appell tragen bisher rund 40 evangelikale wie kirchliche Repräsentanten mit, darunter die Professoren Thorsten Dietz und Frank Lüdke (Evangelische Hochschule Tabor, Marburg), Tobias Faix, Stefan Jung, Tobias Künkler (CVJM-Hochschule Kassel), Michael Herbst (Greifswald), Bischof Hans-Jürgen Abromeit (Greifswald), Birgit Winterhoff (Leiterin des westfälischen Amtes für missionarische Dienste), Werner Schmückle (Leiter der württembergischen Missionarischen Dienste) und Rolf Krüger von der SCM-Verlagsgruppe.

Wo Präses Diener recht hat

Natürlich hat Diener recht, wenn er vor Selbstgerechtigkeit warnt. Sie gibt es in schlimmer Ausprägung auch im Pietismus. Aber doch nicht generell! Natürlich ist Diener zuzustimmen, wenn er die Konzentration in manchen evangelikalen Kreisen auf Sexthemen moniert. Natürlich müssen evangelikale Gemeinden klären, wie sie mit Christen in ihren Reihen umgehen, die ja nichts dafür können, dass sie homosexuell empfinden (bei zwei bis drei Prozent der Bevölkerung wären es etwa 45.000 angesichts von 1,3 Millionen Evangelikalen in Deutschland). Und es muss tatsächlich auch gepredigt werden, was laut Neuem Testament genauso wie sexuelle Verfehlungen von Gott trennt: zum Beispiel Kunden abzocken (die Lutherbibel übersetzt das mit Habgier), überbordende Büfetts (Luther: Fressen), mehr als 5 Glas Bier (Luther: Saufen), sich immer mit anderen vergleichen (Neid) oder ständig rummosern (also für schlechte Laune sorgen).

Richten wir uns nach dem Duden!

Der Duden übersetzt „evangelikal“ mit „die unbedingte Autorität des Evangeliums vertretend“. So ist es! Deshalb muss es darum bei allem gehen. Das Positive an Dieners Interview könnte vielleicht gewesen sein, dass es jetzt wieder zu einer Klärung kommt, damit die Evangelikalen das werden können, was sie sein wollen: eine überzeugende Avantgarde in der Evangelisation, der Diakonie und der gesellschaftlichen Verantwortung. Oder wie es Jesus schlicht, aber treffend sagte: Salz der Erde.

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